IKRK-Präsidentin:

IKRK-Präsidentin: "Menschen, die in bewaffneten Konflikten gefangen sind, brauchen Taten, nicht Worte."

IKRK-Präsidentin Mirjana Spoljaric hält vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Rede über die Notwendigkeit, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten und Menschen in Haft human zu behandeln - New York City, 21. Mai 2024
Article 21. Mai 2024 Vereinigte Staaten von Amerika

Es gilt das gesprochene Wort

Herr Präsident,

ich danke Ihnen für Ihre Bitte, mich vor dem Rat zu diesem wichtigen Thema zu äussern.

Als der frühere IKRK-Präsident Cornelio Sommaruga 1999 an dieser Stelle eine Rede hielt, sprach er von 20 aktuellen Konflikten. Heute gibt es 120 Konflikte, die von unserer Organisation registriert wurden.

In den vergangenen 25 Jahren wurden trotz der zahlreichen von diesem Rat angenommenen Resolutionen Zivilpersonen auf höchst widerwärtige Weise angegriffen, vertrieben, misshandelt, verwundet oder getötet.

Gleichzeitig gibt es immer mehr Konflikte, in denen humanitäre Massnahmen verhindert werden. Neutrale und unparteiische Organisationen, die humanitäre Hilfe und Schutz bieten, so etwa das IKRK, werden regelmässig aus politischen oder militärischen Gründen unter Druck gesetzt.

Welche Mittel gibt es, um einigen dieser verheerenden Entwicklungen Einhalt zu gebieten?

Die Genfer Abkommen stellen den weitestgehenden universellen Konsens über die Notwendigkeit dar, im Krieg die Menschlichkeit zu wahren. Sie sind der Schlüssel, der einen Weg zu Frieden und Stabilität eröffnet. Die in diesem Rechtsrahmen verankerten Grundsätze sind unabhängig von Kultur, Religion oder sozialem Status. Sie sind der gemeinsame Nenner und sie stehen für die gemeinsame Überzeugung, dass Menschlichkeit unantastbar ist und dass alle Menschen gleich viel wert sind.

Herr Präsident,

heute möchte ich die Aufmerksamkeit des Rates auf zwei Themen lenken, die für die Vertrauensbildung zwischen Kriegsparteien oft entscheidend sind:

  1. Erstens auf den Schutz von Personen, denen die Freiheit entzogen wurde oder die Gefahr laufen, zu verschwinden.
  2. Zweitens auf die Einhaltung des humanitären Völkerrechts.

Erstens müssen die Staaten konkrete Massnahmen ergreifen, um alle von bewaffneten Konflikten betroffenen Menschen zu schützen.

Mit den Genfer Abkommen haben die Staaten dem IKRK ein einzigartiges Mandat erteilt und bestimmte Arbeitsmodalitäten festgelegt, die das IKRK in die Lage versetzen, effektiv zu kontrollieren, ob inhaftierte Personen menschenwürdig behandelt werden.

Durch IKRK-Besuche mit klar definierten Modalitäten und durch vertraulichen bilateralen Dialog mit den Gewahrsamsbehörden können wir in Gewahrsamseinrichtungen einen wichtigen Beitrag zum Schutz leisten.

Dennoch sind wir nach wie vor zutiefst besorgt angesichts der Tatsache, dass die Dehumanisierung von Inhaftierten so weit verbreitet ist.
Viele werden weiterhin unmenschlich behandelt und gefoltert, leiden unter schlechten Haftbedingungen, haben keinen Kontakt mehr zu ihren Angehörigen oder werden als politische Verhandlungsmasse benutzt.

Wenn ich sehe, dass unser humanitärer Zugang erschwert und unsere Arbeitsweise in Frage gestellt wird, und wenn ich Berichte über Misshandlungen und Folter lese, dann muss ich unter Bezugnahme auf die besondere Rolle des IKRK und seine Erfahrung unterstreichen, dass es die Staaten bei ihren Bemühungen unterstützt, das Völkerrecht zu achten und in Gewahrsamseinrichtung die Menschlichkeit zu wahren.

Und ich rufe die Parteien eindringlich auf, ihren im humanitären Völkerrecht verankerten Verpflichtungen nachzukommen, alle Inhaftierten human zu behandeln und uns zu erlauben, gemäss unseren Grundsätzen zu arbeiten.
Eng verbunden mit der Frage des Gewahrsams ist das Risiko des Verschwindens von Personen.

Wenn Menschen inhaftiert werden, ohne registriert zu sein, und wenn ihnen der Kontakt zu Angehörigen verwehrt wird, ist eine Zunahme des administrativen oder erzwungenen Verschwindens wahrscheinlich.

Zahlreiche Menschen laufen erhebliche Gefahr, zu verschwinden:

  1. wenn menschliche Überreste in den Trümmern liegen oder auf dem Schlachtfeld zurückgelassen werden;
  2. wenn sie in Massengräbern verscharrt werden oder in überfüllten Leichenhallen liegen, ohne identifiziert und dokumentiert zu werden;
  3. wenn sie - manchmal für Jahre - als Geiseln genommen und als Verhandlungsmasse benutzt werden.

Ich bitte den Sicherheitsrat eindringlich , die Parteien daran zu erinnern, dass sie das humanitäre Völkerrecht (HVR) und die Resolution 2474 einhalten müssen, um zu verhindern, dass Menschen verschwinden, und um das Schicksal derer zu klären, die bereits vermisst werden.

Inmitten von Feindseligkeiten und als integraler Bestandteil eines jeden Wiederaufbauplans müssen die Staaten sicherstellen, dass menschliche Überreste geborgen, identifiziert und ihren Familien zeitnah und würdevoll zurückgegeben werden.

Sie müssen gewährleisten, dass inhaftierte Personen systematisch registriert und ihre Familien informiert werden.


Zweitens müssen die Staaten das humanitäre Völkerrecht so auslegen und anwenden, dass der Schutz der Zivilbevölkerung vor Ort wirksam gestärkt wird.

Das humanitäre Völkerrecht wird immer flexibler gehandhabt, und zwar insbesondere die Grundsätze der Unterscheidung, der Verhältnismässigkeit und der Vorsicht, die für die Durchführung der Feindseligkeiten gelten.

Infolgedessen entsteht eine gefährliche Inkohärenz:

  1. wenn das Leben von Zivilpersonen keinen Wert mehr hat,
  2. wenn wichtige Normen zum Schutz der Zivilbevölkerung implizit zu unverbindlichen Empfehlungen herabgesetzt werden,
  3. wenn der Gesamtschaden, der für die Zivilbevölkerung durch die Zerstörung wichtiger ziviler Infrastruktur entsteht, nicht berücksichtigt wird,

dann verlieren wir das angemessene Gleichgewicht zwischen militärischer Notwendigkeit und humanitärem Imperativ. Bei der Durchführung der Feindseligkeiten verschwinden Einschränkungen – und damit letztlich die Menschlichkeit.


Das humanitäre Völkerrecht ist kein Instrument zur Rechtfertigung von Tod, endlosem Leid und Vernichtung. Die zentrale Aufgabe des HVR, Leben und Gesundheit zu schützen und die Achtung des Menschen auch im Krieg zu gewährleisten, muss gefördert, verteidigt und aufrechterhalten werden.

Der Schutz der von einem bewaffneten Konflikt betroffenen Menschen ist in erster Linie eine Frage der Einhaltung des Völkerrechts.

Für diese Frage sind die politisch Verantwortlichen und die Militärstrategen zuständig, denn sie haben die Macht, über den Verlauf des Krieges zu entscheiden.

Die Einhaltung des Völkerrechts erfordert klare politische Entscheidungen, die dem Schutz der Zivilbevölkerung und anderer geschützter Personen in bewaffneten Konflikten Priorität einräumen.

Die Mitglieder des Sicherheitsrats tragen in ihrer souveränen Funktion, in ihren Partnerschaften und Bündnissen und als Hohe Vertragsparteien eine besondere Verantwortung, das humanitäre Völkerrecht so auszulegen, dass der Schutz der Zivilbevölkerung vor Ort wirksam gestärkt wird.

Dies erfordert

  • entschlossenes Handeln in den Kabinetten, in den Verteidigungsministerien, in der Ausbildung, auf dem Schlachtfeld und im öffentlichen Raum;
  • eine genaue Einschätzung der Lage der Zivilbevölkerung und den Beschluss, den Schutz des Lebens und der Gesundheit der Zivilbevölkerung zu einem der zentralen Ziele bei der Durchführung von Feindseligkeiten zu machen;
  • die Gewährleistung, dass bei den unvermeidlichen politischen Kontakten zwischen den Parteien das humanitäre Völkerrecht und humanitäre Überlegungen nicht als Verhandlungsmasse eingesetzt werden.

Die Staaten müssen gemeinsam und einzeln ihren Einfluss geltend machen, um sicherzustellen, dass der humanitäre Raum respektiert, humanitäre Arbeit proaktiv ermöglicht, humanitärer Zugang gewährt und humanitäres Personal jederzeit geschont wird.

Herr Präsident,

der Weg zu politischer Verständigung und langfristiger Stabilität beginnt mit humanitären Massnahmen - etwa der Freilassung von Gefangenen oder der Rückgabe von menschlichen Überresten.

Als neutraler Vermittler kann das IKRK dazu beitragen, diese Schritte umzusetzen, das Leid zu lindern und Vertrauen zwischen allen Beteiligten aufzubauen.

Für den Sicherheitsrat können Verhandlungen über humanitären Zugang kein Ersatz für das Ausbleiben einer politischen Entscheidung sein.

Humanitäre Hilfe kann Millionen Zivilpersonen retten, doch sie bietet ihnen nicht die Sicherheit, auf die sie ein Recht haben und die sie immer wieder fordern.

Die Staaten müssen sich zur uneingeschränkten Einhaltung des humanitären Völkerrechts und zu einer wirklich kollektiven Verantwortung für den Frieden verpflichten, die konkrete und positive Auswirkungen vor Ort hat.

Menschen, die in bewaffneten Konflikten gefangen sind, brauchen Taten, nicht Worte.

Ich danke Ihnen.