Februar 2022: Peter Maurer, Präsident des IKRK, und Francois Moreillon, Leiter der Delegation, treffen vertriebene Familien in Tillabéri (Niger).

Nach zehn Jahren bewaffneter Gewalt im Sahel ist es noch Zeit, Menschlichkeit zu zeigen

Niamey (IKRK) – In einer Zeit, in der die Sahelzone von Konflikten, Klimawandel sowie sozioökonomischen und politischen Krisen erschüttert wird, beendet Peter Maurer, Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), heute seinen viertägigen Besuch im Niger, bei dem er vom Schweizer Bundespräsidenten Ignazio Cassis und der Schweizer Nationalratspräsidentin Irène Kälin begleitet wurde. Er hat sich mit Staatspräsident Mohamed Bazoum sowie mit Vertretern der Regierung, Gouverneuren sowie Binnenvertriebenen in Tillabéri, Diffa und Agadez getroffen. Der Ausbruch des Konflikts und der bewaffneten Gewalt datiert auf Januar 2012 in Mali zurück und hat seither einen enormen Tribut von der Bevölkerung im Sahel gefordert. Peter Maurer schildert seine Eindrücke.
Statement 10. Februar 2022 Niger Burkina Faso Mali Sahel


Während dieser Woche in Tillabéri und Diffa habe ich mit vertriebenen Familien gesprochen, die unerträgliche Dinge erlebt haben, die niemand je erleben sollte. Manche Familien wurden unter Androhung von Gewalt gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Angehörige wurden getötet und Ernten geplündert. In informellen Siedlungen versuchen sie nun, sich wieder ein Leben geschützt vor den Herausforderungen des Klimawandels und in Sicherheit aufzubauen.

Umweltfragen, der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen und die Dynamik der Konflikte sind eng miteinander verwoben und belasten das Leben von Millionen Menschen mit dramatischen Folgen. Wenn Gewalt und Zusammenstösse sich häufen, sind die Menschen mitunter gezwungen, mehr als nur einmal zu fliehen, und ihre bereits geschwächten Existenzgrundlagen werden in der Folge noch weiter erschüttert. Viele von ihnen laufen Gefahr, in eine Situation der Nahrungsmittelunsicherheit zu rutschen.

Die Familien leben in Unsicherheit und wissen nicht, ob sie eines Tages nach Hause zurückkehren können. Trotz allem legen sie beispiellosen Mut an den Tag. Mehr als je zuvor wollen sie ihre Würde und ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit zurückerlangen.

Die Berichte, die ich im Niger gehört habe, bilden nur einen Ausschnitt aus dem Drama, das seit mehreren Jahren das Leben in den Nachbarländern Mali und Burkina Faso bestimmt. Die letzten zehn Jahre im Sahel waren geprägt von einer humanitären Krise, die ihre deutlichen Spuren hinterlassen hat. Dennoch ist es nicht leicht, das Ausmass der Folgen langfristig abzuschätzen.

Schwierigkeiten beim Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen und humanitärer Hilfe sind in den Gebieten, in denen ein bewaffneter Konflikt oder andere Situationen von Gewalt toben, mehr als offensichtlich. Sie betreffen vor allem die Menschen, die isoliert leben bzw. extrem riskante und lange Wege in Kauf nehmen müssen, um sich medizinisch versorgen lassen zu können. Wir schätzen, dass knapp 1,5 Millionen Menschen im Sahel in Gebieten leben, in denen der Zugang zu humanitärer Hilfe und zu grundlegenden Dienstleistungen fast unmöglich geworden ist.

Für humanitäre Organisationen erschweren die Unsicherheit infolge von explosiven Kampfmittelrückständen, die zunehmende Anzahl der an der Gewalt beteiligten Akteure und das grosse Teile der Region umfassende Ausmass der Konflikte die Bereitstellung von Hilfe. In diesem komplexen Kontext bieten das IKRK und die Freiwilligen des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds den besonders schutzbedürftigen Menschen eine stets von den Prinzipien der Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit geleitete Unterstützung. Unser kontinuierlicher und konstruktiver Dialog – sofern er mit allen Waffenträgern möglich ist – ist entscheidend dafür, sicherzustellen, dass die Prinzipien und Normen des humanitären Völkerrechts respektiert werden, insbesondere der Schutz der Zivilbevölkerung, der Verwundeten, der Kranken sowie der gefangenen, inhaftierten oder vermissten Personen.

Im Laufe der letzten Jahre wurden im Sahel immer mehr Menschen vertrieben. Diese Krise wird in den städtischen und stadtnahen Gegenden immer sichtbarer – mittlerweile gelten über zwei Millionen Menschen als vertrieben, viele von ihnen immer jünger und schutzbedürftiger. Ich konnte diese traurige Entwicklung einer langsamen, aber sich sicher beschleunigenden Verschlechterung der humanitären Lage von Millionen Menschen im Sahel bei meinen regelmässigen Besuchen vor Ort in den letzten Jahren mit eigenen Augen beobachten. Burkina Faso leidet heute beispielsweise mit über 1,5 Millionen Vertriebenen unter der schlimmsten Krise seiner Geschichte. Laut Angaben des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen hat sich die Anzahl der Vertriebenen in den letzten zehn, von Konflikt und bewaffneter Gewalt geprägten Jahren verzehnfacht.

Ganze Städte sind aufgrund der Fluchtbewegungen paralysiert und stellen die Gastfreundschaft und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zwischen den Menschen auf eine harte Probe. Die Folgen stetig steigender Bevölkerungszahlen sowie des Klimawandels und der Konflikte führen nicht nur dazu, dass die natürlichen Ressourcen knapper werden und sich verschlechtern, sondern auch zu einer tiefgreifenden Transformation der Gesellschaft, unabhängig davon, ob die Menschen in der Land- oder der Weidewirtschaft für ihren Lebensunterhalt aufkommen. Diese Situation lässt eine programmierte Intensivierung der Konflikte befürchten.

Vor dem Hintergrund dieser Tatsachen stehen die grundlegenden Dienstleistungen vor enormen Herausforderungen. Trotz aller Bemühungen sind die Gesundheitseinrichtungen aufgrund des unvorhergesehenen Zustroms an Verletzten und Vertriebenen, die auf medizinische Hilfe angewiesen sind, völlig überlastet. Das medizinische Personal wird zum Ziel von Angriffen. Es werden Krankenwagen und Medikamente gestohlen und Tausenden Menschen wird so der Zugang zu lebenswichtiger Versorgung verwehrt.

Im Sahel wird mitten in Mali das Ausmass der Gewalt besonders deutlich. Die Anzahl der im vom IKRK unterstützten Regionalspital in Mopti aufgenommenen Verletzten steigt stetig an – von 345 im Jahr 2019 auf 610 im Jahr 2021. Die medizinischen Teams haben im Laufe der letzten drei Jahre insgesamt 1 485 Verletzte behandelt.

Zehn Jahre später stellen wir uns dieselbe Frage: Wie soll die Zivilbevölkerung vor der Gewalt geschützt werden und welche Unterstützung sollen die Menschen bekommen, um in dieser Situation ihre Würde und Hoffnung wieder herzustellen?
Die Antwort auf diese Frage ist eng mit dem Umgang mit natürlichen Ressourcen wie Boden und Wasser verbunden. Es sind konkrete, nachhaltige Lösungen erforderlich, um den Menschen zu helfen, die Auswirkungen der anhaltenden bewaffneten Konflikte und die Folgen des Klimawandels zu bewältigen.

Die humanitären Antworten reichen nicht mehr aus, denn man kann nicht nur auf die unmittelbaren Probleme reagieren. Humanitäre Organisationen, Akteure in der Entwicklungszusammenarbeit sowie staatliche und private Partner müssen ihre Kräfte bündeln, um die wirtschaftliche Lage der Menschen zu verbessern. Familien und vor allem junge Menschen müssen wieder in die Lage versetzt werden, selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen zu können, um die Abhängigkeit von humanitärer Hilfe zu durchbrechen.

Der Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten steht weiter im Zentrum allen Handelns des IKRK. Trotz der Herausforderungen, die vor uns liegen, lassen wir nicht nach und werden auch niemals nachlassen. Wir erinnern alle Staaten und alle bewaffneten Gruppierungen unablässig an ihre Verpflichtung, die Zivilbevölkerung vor den Folgen von Konflikten und bewaffneter Gewalt zu schützen. Es ist noch Zeit, Menschlichkeit zu zeigen.

Weitere Informationen:
Halimatou Amadou, IKRK Dakar, Tel: +221 78 186 46 87
Tarek Wheibi, IKRK Niamey, Tel: +227 828 112 71