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Die Grosszügigkeit der Menschen im Jemen bleibt – auch inmitten von Konflikt und Leid

In den letzten zwei Jahren leitete Freya Raddi die Hilfsprogramme des IKRK im Jemen. Nun neigt sich ihr Einsatz dem Ende zu und Freya erzählt, dass sie eines Tages gerne in den Jemen zurückkehren möchte, aber nicht als humanitäre Helferin.

Der Jemen lässt niemanden unberührt, hauptsächlich wegen den Menschen. Wegen ihrem Lächeln, ihren Tränen, ihrer Stärke und vor allem ihrer Grosszügigkeit.

Ich erinnere mich an eine Frau, die mich in ihr Haus einlud. Ich sage „Haus“, aber eigentlich war es ein einzelnes Zimmer mit vier oder fünf Matratzen am Boden. Sie zeigte mir alle Medikamente, die sie einnehmen musste, und wir unterhielten uns.

Sie machte zwei Tassen Tee. Ich begann, meinen Tee zu trinken und merkte, dass sie ihren Tee nicht trank.

Ich fragte sie: „Weshalb trinken Sie Ihren Tee nicht mit mir? Wir sollten den Tee zusammen trinken.“

Sie lachte.

„Die zweite Tasse ist für Sie. Sie müssen beide Tassen trinken, denn ich kann Ihnen nichts anderes anbieten“, antwortete sie. Sie besass so gut wie nichts, und dennoch gab sie mir alles, was sie geben konnte.

Während mein Einsatz im Jemen endet, jährt sich der Konfliktbeginn zum fünften Mal. Und gleichzeitig stehen wir am Anfang einer weiteren Bedrohung: dem Coronavirus.

Die Menschen im Jemen haben in den letzten fünf Jahren so viel durchgemacht. In einem Land, in dem nur rund die Hälfte der medizinischen Einrichtungen noch funktioniert, ist das Coronavirus eine grosse Gefahr.

Es gibt überall auf der Welt unterschiedliche Anfälligkeiten. Doch im Jemen herrscht ein aktiver Konflikt. Menschen werden verletzt und vertrieben. Sie haben nur begrenzten Zugang zu Nahrungsmitteln und grundlegenden Diensten.

Es muss alles unternommen werden, um die Ausbreitung des Virus im Land zu verhindern. Die gesundheitliche Lage ist auch ohne diese zusätzliche Gefahr katastrophal genug.

Verhandlungen für einen humanitären Zugang

Als ich meinen Einsatz beim IKRK vor zwei Jahren antrat, gewöhnte ich mich schnell daran, durch Explosionsgeräusche geweckt zu werden. Am Nachmittag gab es jeweils weitere Explosionen, und auch am Abend.

Die Unsicherheit macht den humanitären Zugang sehr schwierig. Dennoch versuchen wir immer, in Notsituationen unweit der Fronten so zu reagieren, dass es den Menschen kurz- und langfristig nützt.

Mit den verschiedenen Konfliktparteien einen humanitären Zugang auszuhandeln, ist schwierig und braucht viel Zeit. In den vergangenen zwei Jahren rief mich manchmal ein Kontakt mitten in der Nacht an, um zu überprüfen, ob die Lastwagen an einem Checkpoint tatsächlich IKRK-Lastwagen waren. Oder man rief mich an, um mich vor möglichen Sicherheitsrisiken zu warnen.

Nicht immer sind wir erfolgreich. Im Gouvernement al-Dschauf kam es in letzter Zeit zu verstärkten Kämpfen, was die Hilfsanstrengungen beeinträchtigt. So konnte ein Ambulanzfahrzeug des Jemenitischen Roten Halbmonds eine medizinische Evakuierung nicht durchführen, weil der Zugang nicht sicher war. Und aus dem gleichen Grund konnten wir das öffentliche Spital von al-Dschauf nicht mit chirurgischen und medizinischen Gütern versorgen.

Vergesst die Frauen nicht!

Vor einigen Wochen schafften wir es in die Stadt Marib, rund 150 km östlich der Hauptstadt Sanaa. Dort kam es in den letzten Wochen aufgrund der eskalierenden Kämpfe in der Umgebung zu einem Zustrom an Vertriebenen.

Ich erinnere mich an den Ort, als ich in den 1990er-Jahren während meines Studiums der Nahoststudien den Jemen besuchte. Damals war Marib ein kleines Dorf. Heute ist es eine florierende Stadt mit Öl und Geschäften. Gleichzeitig gibt es dort über 90 Lager für Binnenvertriebene des Konflikts. Gemeinsam mit dem Jemenitischen Roten Halbmond verteilten wir Nahrungsmittel und Hilfsgüter für rund 70 000 Menschen.

In einem der Lager traf ich ein Kind, das mich in sein Haus einlud. Das Haus war ein Zelt. In dem Zelt waren fünf Familien untergebracht, jede mit ihren eigenen Kindern.

Ich setzte mich zu den Frauen und unterhielt mich mit ihnen. Die Frauen sind in der jemenitischen Gesellschaft unter Umständen nicht sehr sichtbar, aber ihre Perspektive ist wichtig und sollte nicht vergessen werden. Sie müssen sich um die Familie kümmern und die Situation bewältigen.

Sie erzählten mir ihre Geschichten. Alle waren in den letzten 48 Stunden angekommen und bereits zwei- oder dreimal durch den Konflikt vertrieben worden.

Jedes Mal, wenn man wieder fliehen muss, verliert man sein Hab und Gut. Dadurch wird man immer verletzlicher. Eine Familie, mit der ich sprach, stammt ursprünglich aus der rund 370 km entfernten Stadt al-Hudaida. Von dort waren sie nach Hadscha, von Hadscha nach al-Dschauf, von al-Dschauf nach Marib geflüchtet.

Sie hatten praktisch nichts mehr aus ihrem früheren Leben. Sie hatten kein Geld, um ihr Leben wieder aufzubauen. Die Hilfe, die sie von uns erhielten, reicht fürs Überleben. Mehr nicht. Trotzdem gelang es ihnen irgendwie, zu lächeln und in ihrer Situation eine Art Normalität zu schaffen.

Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie ich mein Leben neu anfangen würde, wenn ich alles verlöre. Wie ich es schaffen könnte, weiter durch das Land zu flüchten, von einem Ort zum nächsten, um die sich verschiebenden Fronten zu umgehen. Wie ich noch lächeln könnte.

Marib hinterliess bei mir einen letzten herzzerreissenden Eindruck des Jemen. Während der letzten 17 Jahre, in denen ich in der humanitären Arbeit tätig war, war ich in verschiedenen Konfliktgebieten im Einsatz. Eines haben all diese Orte gemeinsam: Es ist immer die Zivilbevölkerung, die den höchsten Preis bezahlt.

Mehr als alles andere brauchen die Menschen im Jemen Frieden. Ich will nicht wieder als humanitäre Helferin zurückkehren. Ich will als Touristin zurückkehren und mit den Menschen im Jemen in glücklicheren Zeiten Tee trinken.