Das IKRK hilft amputierten Menschen in der Ostukraine

In der Ostukraine soll im Rahmen einer Partnerschaft mit den lokalen Gesundheitsbehörden Menschen geholfen werden, die physische Rehabilitationsdienste benötigen, damit sie wieder uneingeschränkt an der Gesellschaft teilhaben können.
„Bis Weihnachten kannst du wieder selbständig gehen.“
Diese Worte sind an eine neue Patientin im ostukrainischen Charkiw gerichtet.
Der Orthopädietechniker Rayner Erasmus erklärt der 17-jährigen Kamila, die ihr Bein verloren hat, und ihrer Familie genau, wie ihre erste Prothese funktioniert. Er erklärt die komplexen ersten Schritte und alle weiteren Phasen der physischen Rehabilitation. Er ist überzeugt, dass sie dank ihrer Ausdauer und ihrer Tapferkeit grosse Fortschritte erzielen wird. Nicht nur, indem sie sich an ihre neue Realität mit einer Prothese gewöhnt, sondern auch in anderen Bereichen ihres Lebens. Seine Worte zaubern ein schüchternes Lächeln auf das Gesicht des Mädchens. Doch auch sie ist mehr als überzeugt davon. Sie will so viel wie möglich dazu beitragen.

Dank dem neuen physischen Rehabilitationsprojekt werden amputierte Menschen die benötigte Unterstützung erhalten. Sie erhalten neue Hoffnung und das Vertrauen zurück, ihre Unabhängigkeit wiederzuerlangen.
Hinter den Kulissen der physischen Rehabilitation

Rayner Erasmus arbeitet seit August in der Klinik. Er kam im November 2023 in die Ukraine, nachdem er mit Rehabilitationsteams in anderen bewaffneten Konflikten gearbeitet hatte. Seit einiger Zeit ist er ein Bewohner der Stadt Charkiw. Hier hat das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) jüngst ein umfassendes Rehabilitationsprogramm für amputierte Menschen oder Menschen mit anderen physischen Rehabilitationsbedürfnissen auf den Weg gebracht. Das Programm wurde gemeinsam mit dem Gesundheitsministerium auf die Beine gestellt und ermöglicht es, dass in der Ukraine moderne medizinische Rehabilitationsprotokolle implementiert werden. Die Klinik der nationalen medizinischen Universität von Charkiw verfügt über ein ganzes Labor, in dem Patientinnen und Patienten untersucht und provisorische Prothesen angefertigt werden. Die Therapiestunden finden in der Klinik statt. Am wichtigsten ist allerdings, dass hier die ersten, oft zögerlichen Schritte nach dem Verlust eines Körperglieds erfolgen.

„Dieses Programm ist für Charkiw von grosser Bedeutung, da es in der Ostukraine kaum ähnliche humanitäre Projekte oder Rehabilitationsdienste für amputierte Militärangehörige und Zivilpersonen gibt“, erklärt Rayner.
Zurzeit besteht dieses Labor aus „mobilen“ Einheiten – aus Schiffscontainern, die per Lastwagen transportiert werden können. Jeder Container hat eine andere Funktion – von der Anamnese bis hin zur Herstellung der endgültigen Prothesen. Während die Abteilung für physische Rehabilitation an der Universitätsklinik renoviert und eingerichtet wird, arbeitet der Orthopädietechniker in diesen Containern. Es ist eine vorübergehende Lösung, aber die einzige Möglichkeit, wie er und das Team sich momentan um Menschen, die dringend Hilfe benötigen, kümmern können.
„An einem typischen Tag sehe ich Patientinnen und Patienten, um Abdrücke zu erstellen, Prothesen anzuprobieren oder anzupassen. Ich arbeite auch mit den Therapeutinnen und Therapeuten in der Klinik zusammen, wo die Patientinnen und Patienten das Laufen üben. Ich nehme nach Amputationen eine klinische Beurteilung vor und kümmere mich um den technischen Teil der Prothetik“, erklärt Rayner.


2024 konzentrierte sich das Programm hauptsächlich auf Amputationen der unteren Extremitäten. Die Patientinnen und Patienten werden von der Universitätsklinik an die Rehabilitationsdienste überwiesen. Diese beinhalten Prothetik, Therapie und psychosoziale Unterstützung.
„Um die – manchmal sehr lange – Zeit zwischen der Amputation und dem Erhalt einer endgültigen Prothese zu überbrücken, braucht es eine provisorische Prothese. Sobald die Wunde verheilt ist, fangen wir an, mit den Betroffenen zu arbeiten, machen Übungen und bringen ihnen nach der Anpassung der Prothese das Laufen wieder bei. So verlieren wir keinen einzigen Tag, was für uns sehr wichtig ist“, erklärt Rayner.
Die betroffenen Menschen
Bombardierungen, ein hohes Minenrisiko, nicht übertragbare Krankheiten: Die Gründe, weshalb die Patientinnen und Patienten bei uns landen, sind sehr unterschiedlich. Auch hinsichtlich Tätigkeit, Beruf, Alter und Motivation gibt es grosse Unterschiede. Einige möchten eine Familie gründen, während es für andere wichtig ist, wieder arbeiten zu können. Das Hauptziel einer anderen Patientin mag es sein, wieder mit ihren Enkelkindern spazieren zu gehen, sie an der Hand zu halten, statt an einen Rollstuhl gefesselt zu sein. Doch etwas verbindet sie alle wie ein feiner, beinahe unsichtbarer Faden: der Wunsch, wieder auf ein voll funktionstüchtiges Glied zählen zu können.
„Entscheidend ist, dass amputierte und behinderte Menschen ein normales Leben führen können, dass sie die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit ihrer Amputation und ihren Verletzungen vergessen können“, so Rayner.
Er nennt seinen Teil der Arbeit rein technisch. Doch hat sie viel mit einfachen Träumen zu tun, die ohne Rehabilitation kaum umsetzbar wären. Bei seinen Patientinnen und Patienten handelt es sich um Zivilpersonen und Militärangehörige. Sie kommen aus Charkiw oder kleinen Dörfern der Region. Alle haben ihre eigene Geschichte im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt und seinen Folgen. Diese Geschichten waren früher Einzelfälle, doch heute sind sie leider eine weit verbreitete Realität.
„Einige Patientinnen und Patienten mussten aufgrund gesundheitlicher Probleme amputiert werden. Als Folge des eskalierenden Konflikts konnten sie in ihrer Region nicht rasch genug medizinisch betreut werden, was zum Verlust ihres Körperglieds führte. Die meisten meiner Patientinnen und Patienten sind jedoch Militärangehörige, die im Konflikt verwundet wurden. Zurzeit behandeln wir auch ein Mädchen, das bei einer Bombardierung verletzt wurde“, erklärt Rayner.

Kamila studiert an einer Universität in Charkiw und hat bis Weihnachten eine besondere Aufgabe. Sie studiert Psychologie, liebt Sport und ist gerade von zu Hause ausgezogen. Vor nur wenigen Monaten unterschied sich Kamilas Leben kaum von jenem Gleichaltriger. Studium, Familie, Freunde, Freizeit. Heute muss sie eine Prothese tragen. Am letzten Sommertag veränderte sich ihr Leben komplett. Vergangenen August wurde ihr linkes Bein unterhalb des Knies amputiert. Bei einem Luftangriff wurde ein Park in Charkiw getroffen, wo Kamila und ihre Schwester sich nach der Vorlesung aufhielten. Sie lernte, sich mit Krücken fortzubewegen, ihr wurde aber bewusst, dass sie eine Prothese brauchen würde, wenn sie wieder Radfahren möchte. Verzweifelt war sie nicht. Sie möchte in ihrem Leben noch so viel erreichen.

In drei Tagen war die Prothese für Kamila fertiggestellt. Es brauchte mehrere Untersuchungen. Anschliessend wurden Masse und ein Abdruck genommen, um eine Prothese mit der perfekten Passform anfertigen zu können. Mitte November trug Kamila sie zum ersten Mal. Eine Woche später machte sie zuversichtlich ihre ersten Schritte. Dieser technologische mit Stickern vollgeklebte Apparat ist Teil ihres neuen Lebens geworden. Ein wenig verändert hat es sich zwar, doch geht sie ihren üblichen Tätigkeiten nach, hat neue Pläne und Träume.

Michailo wurde im Sommer in der Universitätsklinik aufgenommen. Er begann jeden Tag mit ausgedehnten Spaziergängen auf dem Gelände. Mit Krücken überwand er Treppen, einfach nur, um die Bewegungen nicht zu verlernen. Er war bei einem Militäreinsatz auf eine Mine getreten und hat dabei sein Bein verloren. Die Ärzte mussten es unterhalb des Knies amputieren. Nach der Operation benutzte Michailo nie einen Rollstuhl. So schwierig und schmerzhaft es auch war, ging er auf Krücken mit kleinen Schritten seinem neuen Leben entgegen. Er wusste, dass er um jeden Preis wieder laufen wollte.

„Obwohl wir nicht die gleiche Sprache sprechen, verstehen wir uns bestens. Michailo ist sehr tapfer, immer freundlich und fröhlich. Er wartete geduldig, bis seine Wunde verheilt war, bevor er die Prothese anzog. Ich weiss, dass Michailo mit Pferden arbeitete, bevor er in die Armee ging, und dass er es liebte. Ich hoffe sehr, dass er bald wieder zu seinen geliebten Pferden zurückkehren kann“, sagt Rayner.
Doch Michailo hat ein anderes wichtiges Ziel: Wenn alles überstanden ist, möchte er eine Familie gründen. Seine Freundin war in den schwierigen Momenten seines Lebens stets an seiner Seite und hat ihm immer die nötige Fürsorge und Unterstützung gegeben.
Michailo probierte seine Prothese im Oktober zum ersten Mal an. Genau beobachtet wurde er dabei von Rayner, der sein neues Bein angefertigt hatte, einem Therapeuten und den Ärzten der Universitätsklinik, die ihm beistanden, Tipps gaben und während seines gesamten Genesungsprozesses eine unglaubliche Stütze für Michailo waren. Wenige Wochen später spazierte er zuversichtlich und lächelnd durch die Gänge des Spitals und schien die Prothese dabei fast zu vergessen. Und seine Freundin war wie immer an seiner Seite. Hier in Charkiw, Mitten im Herbst, ist Michailo seinem Traum buchstäblich einen Schritt nähergekommen.

Zum Beruf und zur Person
„Ich stiess Ende 2016 zum IKRK. Mein erster Feldeinsatz führte mich 2017 in den Südsudan. Dann folgen Myanmar, der Irak, Libyen und Tunesien. Nun bin ich in der Ukraine gelandet. Ich habe viele Folgen von bewaffneten Konflikten und viel menschliches Leid gesehen. Ich entschied mich für diesen Weg, weil ich etwas für die Menschen verändern wollte. Mir war bewusst, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, aber ich fand meine Berufung darin, den Menschen wieder auf die Beine zu helfen. Das wollte ich schon als kleiner Junge. Und hier habe ich das Gefühl, gebraucht zu werden.“
Rayner kennt keine geografischen Grenzen. Er arbeitet, wo seine Kompetenzen am meisten gebraucht werden. Unabhängig von der Situation im Land, seiner Lage oder den klimatischen Bedingungen. Deshalb zögerte er auch nicht, in die Ukraine zu kommen. Und bei seiner Arbeit in der Klinik bereut er seine Berufswahl keinen Moment.
„Am besten gefällt mir die Anprobe von Prothesen. Genauer gesagt, wenn eine Person zum ersten Mal wieder auf zwei Beinen steht und anfängt zu laufen. Ich freue mich sehr, an diesem Prozess beteiligt zu sein und verstehe gut, dass er die Menschen wieder glücklich macht“, sagt er.

Als dieser Text verfasst wurde, haben Kamila, Michailo und über zehn weitere Personen den vollen Rehabilitationszyklus beendet oder befanden sich in unterschiedlichen Phasen des Prozesses. Rayners Agenda füllt sich weiter mit Terminen mit Patientinnen und Patienten und verschiedenen Schritten der Herstellung von Prothesen. Er denkt, dass diese Arbeit hier noch lange fortgeführt werden muss. Obwohl die Patientinnen und Patienten scheinbar lediglich für eine Prothese herkommen, haben sie nach ihrer Rehabilitation meist auch einen guten Freund gewonnen, der einiges über ihr Leben weiss, mit ihnen scherzt und sie unterstützt.
In der Prothesen-Werkstatt geht das Licht erst lange nach Sonnenuntergang aus. Mit seinem vermeintlich rein technischen Job macht der Orthopädietechniker Menschen im ostukrainischen Charkiw ein wenig glücklicher. Er lässt sie wieder träumen, unterstützt sie dabei, ihre beinahe vergessenen Lebenspläne weiterzuverfolgen und trotz der Umstände neue zu schmieden. Rayner arbeitet dort, wo er am meisten gebraucht wird.
Lesen Sie mehr über die Arbeit des IKRK in der Ukraine
- Ukraine: Infolge der zunehmenden Kampfhandlungen rund um Charkiw weitet das IKRK seine Unterstützung für Vertriebene aus
- Russland–Ukraine: Übersicht über die Arbeit des IKRK zwei Jahre nach der Eskalation des bewaffneten Konflikts
- Internationaler bewaffneter Konflikt zwischen Russland und der Ukraine: Fragen und Antworten zur Arbeit des IKRK