Medienmitteilung

Eskalation der Kämpfe in Tigray und Nordäthiopien: Lagebericht

Addis Abeba / Genf (IKRK) – Innerhalb von nur zwei Wochen hat die Eskalation der Kämpfe in Tigray und Nordäthiopien unermessliches Leid verursacht und droht zu einer weitreichenden humanitären Krise zu werden.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) besuchte Gesundheitseinrichtungen in Tigray und Amhara, die grösstenteils noch keine Unterstützung erhielten und dringend medizinische Hilfsgüter benötigen, um die zahlreichen Verletzten behandeln zu können. Das Äthiopische Rote Kreuz (ERCS) brachte Hunderte von Verletzten aus den Kampfgebieten. Mehr als 1000 Personen auf der Suche nach Angehörigen wandten sich mit der Bitte um Hilfe an die IKRK-Hotline und seine Büros in Mek'ele und Addis Abeba.

Während die Feindseligkeiten fortgesetzt werden, entwickelt sich eine verheerende humanitäre Krise – nicht nur innerhalb Äthiopiens, sondern auch jenseits seiner Grenzen

sagte Katia Sorin, Leiterin der IKRK-Delegation in Addis Abeba. „Tausende suchen Zuflucht im Sudan, Unzählige werden im Inland vertrieben. Der Blackout des Fernmeldewesens in Tigray hat es den Menschen praktisch unmöglich gemacht, Kontakt zu Angehörigen aufzunehmen, und infolgedessen machen sie sich grosse Sorgen um deren Verbleib und Sicherheit".

Das IKRK-Team besuchte drei Spitäler und einen Basisgesundheitsdienst im Norden Amharas, um den Bedarf festzustellen und medizinische Hilfsgüter zu verteilen, darunter chirurgische Instrumente, Material für die Wundbehandlung, Infusionslösungen, Medikamente und medizinisches Verbrauchsmaterial. Das Team stellte auch Krankenbetten, Matratzen, Matten und Decken zur Verfügung. Für viele dieser Einrichtungen ist es das erste Mal seit Beginn der Krise, dass sie externe Unterstützung erhalten. Das IKRK hat auch den Bedarf im Ayder-Referenzspital in Mek'ele ermittelt.

Das ERCS verfügt über einen der grössten Ambulanzdienste der Region, der Hunderte von Verletzten evakuierte und nun Erste-Hilfe-Materialien erhielt. Weitere medizinische Hilfsgüter und Medikamente für Notfälle werden in Nairobi und Addis Abeba zusammengestellt und sollen an andere Gesundheitseinrichtungen verteilt werden.

IKRK-Delegierte erhielten Zugang zu Personen, die im Zusammenhang mit den Kampfhandlungen inhaftiert worden waren; ihr Gesundheitszustand wurde überprüft und sie wurden mit den wichtigsten Hygieneartikeln und anderem versorgt. Zudem haben IKRK- und ERCS-Teams begonnen, in einem Schulgebäude in Mek'ele Menschen zu helfen, die versuchen, Kontakt zu Angehörigen aufzunehmen, und zwar vorwiegend mit Hilfe von schriftlichen Kurzmitteilungen.

Humanitäre Anliegen

  • Spitäler und Basisgesundheitsdienste in Gebieten, in denen Kampfhandlungen stattfinden, benötigen medizinisches Material und Unterstützung, um Verletzte zu versorgen. Sie brauchen zudem dringend Krankenbetten, Matratzen, Matten, Decken und Bettwäsche. Die Universitätsklinik in Gonder hat zahlreiche Schwerverletzte aufgenommen und bisher rund 400 dieser Patienten behandelt. Die Klinik behandelt überdies 14 COVID-19 Patienten, was deutlich macht, dass die Gesundheitseinrichtungen mit der Behandlung von Verletzten inmitten einer Pandemie zunehmend unter Druck geraten.
  • Infolge der Krise ist auch die Lieferkette für Routinemedikamente und medizinisches Verbrauchsmaterial unterbrochen. Unser Büro in Mek'ele erhielt vom Ayder-Referenzspital in Mek'ele eine dringende Nachfrage nach Medikamenten und medizinischen Hilfsgütern für die Versorgung von Diabetikern und Dialysepatienten. Das Spital ist das einzige in der Region, das diese Erkrankungen behandelt. Die Unterbrechung der Lieferungen ist auch problematisch für bestimmte Bevölkerungsgruppen, vor allem für die Flüchtlinge und die äthiopischen Binnenvertriebenen, die in Tigray auf Hilfe angewiesen sind.
  • Vergangene Woche wurden drei Ambulanzen des Äthiopischen Roten Kreuzes angegriffen. Die Gründe dieser Angriffe sind nicht ganz klar, doch es ist besorgniserregend, dass Gesundheitspersonal und Ersthelfer nicht respektiert und geschützt werden, denn die Angriffe sind lebensgefährlich für diejenigen, die auf medizinische Hilfe angewiesen sind. In der Folge rief das ERCS in einer öffentlichen Erklärung dazu auf, das Schutzzeichen des Roten Kreuzes zu respektieren und die humanitäre Arbeit von Freiwilligen, Mitarbeitenden und medizinischem Personal des Äthiopischen Roten Kreuzes nicht zu behindern.
  • Tausende fliehen in den Sudan, um sich in Sicherheit zu bringen, und Unzählige werden innerhalb Äthiopiens vertrieben. Sie brauchen Nahrung, Unterkunft, Wasser und medizinische Versorgung sowie Unterstützung bei der Suche nach ihren Familien und bei der Kontaktaufnahme.
  • Aufgrund des Blackouts des Fernmeldewesens in Tigray wissen viele Menschen nicht, ob ihre Angehörigen noch leben und in Sicherheit sind. Voller Angst sind sie auf der Suche nach Antworten. Sowohl unsere Hotline als auch unser Büro in Mek'ele werden mit Bitten bestürmt, bei der Suche nach Angehörigen zu helfen.
  • Wir machen uns Sorgen um das Wohl Tausender eritreischer Flüchtlinge, die derzeit in Tigray leben und Schutz und Hilfe benötigen.
  • Die Kämpfe in Tigray kommen zu den in verschiedenen Teilen Äthiopiens immer wieder auftretenden Gewaltausbrüchen hinzu. Viele Menschen werden getötet, vertrieben, verhaftet und verletzt.

Operative Informationen

  • Das IKRK-Team besuchte vier Gesundheitseinrichtungen, darunter einen Basisgesundheitsdienst und drei Spitäler in Gonder, Sanja, Abereha Jira sowie Abderafi in Nord-Amhara und verteilte dort Material für die Behandlung von Leicht- und Schwerverletzten. Das Universitätsspital Gonder erhielt Matratzen, Decken und Matten für 200 Patienten.
  • Die ERCS-Zweigstelle, die die Gebiete West-, Nord- und Zentral-Gonder in Amhara abdeckt, verfügt über zehn Ambulanzen, die bisher Hunderte von Verletzten zu verschiedenen medizinischen Einrichtungen transportiert haben. Das IKRK versorgte die Zweigstelle mit Erste-Hilfe-Material für die Ambulanzen.
  • Das IKRK-Team besucht Personen, die im Zusammenhang mit den Kampfhandlungen inhaftiert wurden, überprüft ihre Haftbedingungen und ihre Behandlung und bringt ihnen wichtige Hygieneartikel wie Seife und Desinfektionsmittel sowie Wasserkanister.
  • Gemeinsam mit dem Äthiopischen Roten Kreuz wurde eine Hotline eingerichtet, um Menschen zu helfen, die in Tigray nach Angehörigen suchen. Unsere Teams erhielten in der letzten Woche mehr als 1000 Anrufe von Menschen in Äthiopien und im Ausland, die auf der Suche nach Angehörigen sind. Wer Angehörige sucht, sollte unsere Hotline unter +251 94 312 2207 anrufen, eine E-Mail an add_tracing_services@icrc.org schreiben oder das Äthiopische Rote Kreuz unter +251 11 552 7110 kontaktieren.
  • In einem Schulgebäude in Mek'ele richtete das IKRK ein Büro ein, das bislang mehr als 400 Menschen half, mit ihren Familien Kontakt aufzunehmen, vorwiegend durch Kurznachrichten, die sogenannten Salamats. Dies ist jedoch nur ein Tropfen auf den heissen Stein; der Blackout des Fernmeldewesens in Tigray macht es ausserordentlich schwierig, Angehörige zu suchen und zu kontaktieren.
  • Das IKRK mobilisiert in seinem Logistikzentrum in Nairobi sowie in Addis Abeba weitere medizinische und andere Hilfsgüter, darunter medizinisches Material für die Behandlung von rund 500 Schwerverletzten. Diese Hilfsgüter werden Spitäler und Kliniken, die derzeit sowohl bei der Routine- wie bei der Notfallversorgung der Patienten überfordert sind, rasch entlasten.
  • Diese Woche wird ein Evaluierungsteam zur sudanesisch-äthiopischen Grenze reisen, um gemeinsam mit unserem Partner, dem Sudanesischen Roten Halbmond, mit Flüchtlingen zu sprechen und den Bedarf speziell im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung und die Trennung von Familien zu ermitteln.
  • Das IKRK ist seit langem in Äthiopien präsent, und es ist angesichts von Gewalt in anderen Teilen des Landes wie Oromia, Benishangul-Gumuz, Amhara und dem Regionalstaat Somali tätig geworden. Das IKRK unterhält einen bilateralen vertraulichen Dialog mit den Waffenträgern, um sicherzustellen, dass die an den Kämpfen Beteiligten ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen einhalten.

Weitere Informationen:

Zewdu Ayalew, IKRK Addis Ababa, zayalew@icrc.org, +251 911 614 336

Crystal Wells, IKRK Nairobi, cwells@icrc.org, +254 716 897 265

Halimatou Amadou, hamadou@icrc.org, +221 78 186 4687

Vorschau und Download von aktuellem IKRK-Bildmaterial in Sendequalität:
www.icrcvideonewsroom.org