Artikel

Krieg in Städten: Tripolis, Libyen

Wenn Kriege in Städten ausgetragen werden, ist es die Zivilbevölkerung, die die Hauptlast zu tragen hat. In dieser neuen Serie untersuchen wir die verheerenden Auswirkungen auf Menschen, deren Strassen zur Front geworden sind.

Wir sprachen mit Youser Benali, die in Tripolis (Libyen) als IKRK-Programmbeauftragte für Nothilfe und Existenzgrundlagen zuständig ist.

Wie ist das Leben in Tripolis im Moment?

Zurzeit ist es relativ ruhig hier. Wir befinden uns in einer Nachkriegsphase. Aber jetzt haben wir natürlich auch Probleme im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie.

Zudem gibt es viele Dauerprobleme, zum Beispiel die Treibstoffknappheit, die den Weg zur Arbeitsstelle oder auch Familienzusammenkünfte schwierig macht. Ausserdem kommt es immer wieder zu Stromausfällen, oft um die Mittagszeit, wenn die Frauen das Essen für die Familie zubereiten.

Die bislang letzte Konfliktphase dauerte etwa eineinhalb Jahre, von April 2019 bis August 2020.

In dieser Zeit wurden schwere Schäden an Wohnhäusern, Infrastruktur und Verwaltungsgebäuden angerichtet.

Es war eine schwierige Zeit und man hatte das Gefühl, sie dauere länger als es tatsächlich der Fall war.

Wie war es in Tripolis in dieser Zeit?

Es war eine merkwürdige Situation: In den südlichen Vororten der Hauptstadt tobten die Kämpfe, während der östliche Teil der Stadt halbwegs normal funktionierte.

Bewaffnete Gruppen zogen durch die Strassen, auf dem Weg von der Front oder dorthin. Es war eine seltsame Mischung von Zivilpersonen und Bewaffneten. Der nächtliche Beschuss war beängstigend, und Fahrten ausserhalb der Stadt waren schwierig, da der Flughafen gelegentlich getroffen wurde. Auch das Gesundheitswesen und die medizinische Versorgung waren durch die Kämpfe beeinträchtigt, da sie zahlreiche Verletzte versorgen mussten.

Wahrscheinlich gewöhnt man sich irgendwie daran. Es war ja nicht so, dass alle dachten, das sei normal. Aber weil es so lange andauerte, wurde es zur Norm.

Es war wirklich schwierig. In der Vergangenheit gab es immer wieder Konflikte, aber sie dauerten nie so lange wie dieser.

Wegen der Feindseligkeiten waren die Menschen gezwungen gewesen, ihre Wohnungen zu verlassen, und nun lebten viele in Sammelunterkünften, darunter Schulen, frühere Verwaltungsgebäude und Unterkünfte in der Nähe von Moscheen, die Zuflucht boten.

Bei einem Grossteil unserer Arbeit handelte es sich darum, diese Sammelunterkünfte wo immer möglich zu sicheren Orten zu machen. Wir gingen also dorthin und überlegten, was die Leute dort brauchten.

Dann verteilten wir lebenswichtige Dinge wie Nahrungsmittel, Seife und Wasser. Die Menschen hatten nichts mehr. In einigen dieser Unterkünfte haben wir auch die Wasserversorgung wiederhergestellt, was nach dem Ausbruch von COVID besonders wichtig war.

Was sind die Hauptprobleme der Menschen, die Sie unterstützen? Was sagen Ihnen die Leute?

Im Jahr 2019, nachdem viele Menschen wegen der Kämpfe aus ihren Häusern geflohen waren, führten wir eine grosse Haushaltsbefragung durch, um den Bedarf zu ermitteln und die Situation der Menschen zu verstehen. Wir besuchten sie zu Hause oder dort, wo sie lebten.

Eine dieser Geschichten werde ich nie vergessen.

Wir besuchten eine Familie und fragten den Mann, wie es ihm ging und was geschehen war. „Wann sind Sie geflüchtet? Wohin gingen Sie?" und andere solcher Fragen.

Bei diesen Gesprächen kommt man immer an einen Punkt, an dem man nicht mehr als fremde Person wahrgenommen wird, die „einen Bedarf ermittelt", sondern als Mitmensch.

Der Mann war mit der Familie vor den Kämpfen geflohen und wurde an einem Kontrollpunkt von Bewaffneten angehalten.

Im Auto sassen auch seine Frau, seine zwei Töchter und ein junger Mann, sein Sohn. Die Posten kontrollierten den Kofferraum und fanden eine alte Armeeuniform.

In Libyen war der Militärdienst früher obligatorisch, und deshalb haben viele Leute alte Uniformen, die sie beim Autowaschen oder bei Arbeiten im Haus auftragen.

Der Mann sagte, er wolle nur seine Familie vor den Kämpfen in Sicherheit bringen. Sie glaubten ihm nicht. Sie sagten, er sei Armeeangehöriger und stehe wahrscheinlich in Verbindung mit einer der bewaffneten Gruppen.

Er erzählte mir, die Männer hätten ihn vor den Augen seiner Frau und seiner Töchter zusammengeschlagen.
Seinen Sohn nahmen sie fest.

Mehr weiss ich nicht über sie. Ich denke immer noch an sie, sehr oft. Hat die Familie den Sohn lebend wiedergefunden? Oder haben sie erfahren, dass er gestorben ist? Oder warten sie noch und sind im Ungewissen?

Die Geschichte macht mich sehr nachdenklich. Ich kann mir vorstellen, wie es dieser Familie – und so vielen anderen – ergangen ist.

Was kann das IKRK tun?

Insgesamt haben im vergangenen Jahr in Libyen nahezu eine Million Menschen eine oder mehrere Hilfen des IKRK nutzen können, sei es unmittelbar durch die Verteilung von Nahrungsmitteln, wichtigen Haushaltsartikeln oder Bargeld, oder mittelbar dank der Unterstützung des IKRK bei der Wasserversorgung und im Gesundheitswesen.

Wie hat sich der Bedarf im Lauf der Zeit verändert?

Zunächst stellten wir im Rahmen der Nothilfe die benötigten Güter zur Verfügung. Doch längerfristig bauen wir ein umfangreiches Bargeldhilfeprogramm auf, damit die Menschen Nahrungsmittel und Dinge kaufen können, die sie am dringendsten benötigen.

Einige unserer Bargeldprogramme liefen über Monate, denn die Menschen in den Sammelunterkünften sind besonders gefährdet: Sie können sich keine Miete leisten und haben keine Verwandten, bei denen sie wohnen können. Wir stellten nicht nur Bargeld, sondern auch Möbel und Unterkünfte zur Verfügung – je nachdem, was fehlte.

Noch heute leben manche Menschen in Sammelunterkünften, weil die Schäden an ihren Häusern so gross sind, dass sie nicht zurückkehren können.

Das liegt daran, dass ein grosser Teil der Schäden die Infrastruktur betrifft, und solche Reparaturen sind – vor allem bei schlechter Wirtschaftslage – oft unerschwinglich.

Baumaterial ist sehr teuer, und die Leute haben nicht viel Geld, denn sie haben praktisch alles ausgegeben, um in diesen eineinhalb Jahren nach der Vertreibung zu überleben.

Was ist Bargeldhilfe?

Während die Soforthilfe Menschenleben rettet und die schlimmsten Auswirkungen von Konflikten lindert, versuchen wir immer, unser Hauptziel im Auge zu behalten: Wir wollen die Menschen wieder in die Lage versetzen, für sich selbst zu sorgen. In manchen Fällen helfen wir mit kleinen Bargeldbeträgen, damit Familien selbst entscheiden können, wie sie ihren Bedarf decken; diese Art Hilfe ist indirekt von Nutzen für lokale Märkte und Erzeuger. In anderen Fällen helfen wir den Menschen, einen kleinen Betrieb zu gründen oder ihre eigenen Nahrungsmittel zu produzieren. > Mehr über unsere Tätigkeit im Bereich der Bargeldhilfe. (Beitrag auf Englisch)

Wie steht es um die Kultur in Tripolis, was ist bemerkenswert?

Ich glaube, diese Stadt hat viel zu bieten hat, denn sie hat eine sehr lange Geschichte, die manchen Menschen vielleicht nicht bewusst ist.

Es gibt hier eine einzigartige Kultur, weil Tripolis die Hauptstadt ist und Menschen aus anderen Städten hier leben.

Hier leben viele Menschen mit unterschiedlichstem Hintergrund zusammen, die Stadt ist ausgesprochen multikulturell.

Zudem lieben wir unser Essen. Ehrlich gesagt ist das Essen hier die einzige Ablenkung. Ausserdem lieben wir unseren Kaffee - wir sind sehr streng, wenn es um Kaffee geht.

Was gefällt Ihnen am besten an Tripolis?

Ich liebe vor allem die Küste, denn hier gehören wir zum Mittelmeer. Die Aussicht ist sehr schön, besonders im Sommer, wenn es am Ufer kühl und ruhig ist.

In diesem Teil der Stadt fühle ich mich am wohlsten. Immer wenn ich anderswo hingehe, wo es kein Meer gibt, bin ich sehr dankbar, wenn ich nach Hause komme. Mein Haus liegt fast an der Küste, ich habe also grosses Glück.

Warum sind Kampfhandlungen in Städten so verheerend?

Seit mehr als zehn Jahren kommt es immer wieder zu Konflikten, doch selbst wenn die Kämpfe vorüber sind, können die Menschen nicht einfach zur Normalität zurückkehren.

Ihre Häuser sind zerstört, überall liegen Blindgänger, ihre Existenzgrundlage ist vernichtet. Wenn in Städten wie dieser Kriege geführt werden, ist es für die Menschen extrem schwierig, ein neues Leben aufzubauen.