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„Sie liegt begraben und ruht in Frieden.“

Ein IKRK-Forensiker berichtet über seine Erfahrungen infolge der schlimmsten Wirbelstürme in Afrika und auf der Südhalbkugel.

Vor einem Jahr fegte der Wirbelsturm Idai über Mosambik, Simbabwe und Malawi hinweg. Auf den Zyklon, von dem über drei Millionen Menschen betroffen waren, folgte einen Monat später ein zweiter tropischer Wirbelsturm mit dem Namen Kenneth.

Einer der Ersthelfer vor Ort war der IKRK-Forensiker Stephen Fonseca. Das IKRK-Team im südlichen Afrika unterhielt sich jüngst mit ihm darüber, was er nach seiner Ankunft in Mosambik erlebt hat.

Frage: Wie war es vor Ort, nachdem der Zyklon Idai über das Land gefegt war?

Stephen: Es herrschte Chaos. Als wir am Ort des Schreckens ankamen, mussten wir unsere Position in der Hierarchie der Katastrophenhilfe rasch finden. Überschwemmungen sind stets eine logistische Herausforderung, da alle Strassen abgeschnitten sind. Essen, medizinische und andere lebensnotwendige Güter vor Ort zu bringen, ist schwierig. In unserem Fall bestand die Herausforderung darin, zu den betroffenen Menschen zu gelangen, um mit einer würdevollen und angemessenen Bergung der Todesopfer beginnen zu können.

Die Gastfreundschaft, die uns die lokale Bevölkerung entgegenbrachte, war unglaublich. Die Bauern nahmen uns auf, verstanden die Bedeutung unserer Arbeit und einige von ihnen halfen uns sogar dabei, Informationen zusammenzutragen.

Frage: Welche Rolle hat ein Forensiker bei einer Naturkatastrophe wie dem Zyklon Idai?

Stephen: Wir konzentrieren uns auf die Vermissten und eine würdevolle Behandlung der Toten. Wir versuchen, Systeme einzuführen, dank denen inmitten von Chaos Informationen zusammengetragen werden können. All diese Leichen sind Individuen. Sie haben Anspruch auf Würde, sie haben Anspruch auf ihre Identität und sie haben Anspruch auf die Wiederherstellung einer Verbindung mit ihren Familien.

Wir treffen uns auch mit Gemeindeverantwortlichen oder lokalen Behördenvertretern, um sie zu beraten und zu unterstützen, was wir dank unserer Erfahrung können.

Frage: Wie sah ein typischer Tag für Sie vor Ort aus?

Stephen: Naturkatastrophen hängen von zahlreichen unvorhersehbaren umweltbezogenen Umständen ab. Es ist ganz anders als in Konfliktsituationen. Meine Tage begannen jeweils früh und bereits die ersten Gedanken kreisten um die Suche nach Leichen. Wir wurden von einem nationalen Behördenvertreter begleitet und trafen gemeinsam Gemeindeverantwortliche, bevor wir dann unsere langen Märsche auf der Suche nach Toten wieder aufnahmen.

Die Voraussetzungen, um in der überfluteten Landschaft Leichen zu finden, waren sehr schwierig. Es handelte sich um ein Malaria-Gebiet und wir mussten viele Kilometer im Schlamm waten, was äusserst anstrengend war. Es fühlte sich an wie Zement, der Schlamm zog uns jeweils beinahe die Stiefel aus, und mit jedem Schritt wurden unsere Füsse schwerer.

Wir fanden Leichen oder Leichenteile, zum Beispiel Knochen. Alles, was wir finden konnten, war wichtig, denn es gehörte zu einem Individuum und war vielleicht das Einzige, das eine Familie zurückerhalten würde. Auch die Bergungen waren in Abhängigkeit der Umstände natürlich kompliziert. Es gab Gebiete, in denen unzählige Krokodile lebten, weshalb wir sehr vorsichtig sein mussten. Wir sahen auch Spuren von Nilpferden und befürchteten, dass wir auf Schlangen treffen würden.

Die Bergungen stellten uns vor verschiedene Probleme. Wird eine Leiche in Anwesenheit von Angehörigen geborgen, muss dies mit sehr viel Würde und Respekt getan werden, insbesondere in Fällen, in denen die Verwesung eingesetzt hat. Manchmal ist eine Bergung der Leiche nicht möglich. Zum Beispiel wenn eine Leiche auf einem Baum feststeckt und die Bedingungen zu schwierig sind. In einigen Fällen gelang es uns nicht, die Leichen an einen zentralen Ort zurückzubringen – stattdessen mussten wir sie begraben und die Orte kennzeichnen, damit ihre Familien sie dort wiederfinden konnten.

Frage: Sind Sie der Meinung, dass Forensiker insgesamt stärker in die Katastrophenhilfe einbezogen werden sollten?

Stephen: Was ist das Schlimmste, das bei Katastrophen passieren kann? Der Tod. Der Tod oder das Verschwinden von geliebten Menschen. Alles andere kann ersetzt werden. Für humanitäre Akteure ist der Schutz des Lebens stets der wichtigste Aspekt, doch wir sollten nie vergessen, dass die Familien nach der Beruhigung der Lage wissen wollen, wo ihre Angehörigen begraben liegen. Und obwohl sie tot sind, haben die Angehörigen das Recht zu wissen, wo sie sich befinden.

Forensiker sollten einbezogen werden, da wir nicht durch andere wichtige Hilfsaufgaben abgelenkt werden. Natürlich geht es in erster Linie um den Schutz des Lebens, doch wenn jemand vermisst wird, kann die Wiederherstellung der Verbindung zwischen dem Toten und seiner Familie Jahre oder gar Jahrzehnte dauern. Wir müssen rasch handeln, um möglichst viele Informationen zusammenzutragen, damit die Familien optimale Chancen haben, ihre Toten eines Tages wiederzufinden. Nach vielen Katastrophen geht die Suche nach den Toten noch lange Zeit weiter, lange nachdem alles andere wiederaufgebaut ist.

Frage: Gibt es eine besondere Erinnerung im Zusammenhang mit der tragischen Katastrophe im letzten Jahr?

Stephen: Ich erinnere mich an einen Fall in Mosambik, bei dem uns die Menschen einer Dorfgemeinschaft einen Fluss entlangführten, der über die Ufer getreten war, die Felder überflutet und zahlreiche Todesopfer gefordert hatte. Die enormen Wassermassen waren so hoch, dass sie ein Kind auf einen Baum von 15 bis 20 Metern Höhe schwemmten. Der tote Körper des Mädchens hing nackt und kopfüber in den Ästen des Baumes.

Sie führten uns zum Baum in der Hoffnung, wir könnten die Leiche des Mädchens, das wohl zwischen sechs und zehn Jahre alt gewesen war, bergen könnten. Natürlich hat die Sicherheit in solchen Situationen oberste Priorität und wir wollten keine Verletzungen oder gar einen tödlichen Unfall riskieren, um eine Leiche zu bergen. Der Fluss neben dem Baum war sehr tief und es war die Rede von Krokodilen. Zudem gab es zahlreiche Schlangen, die vom Wasser an den Baum gespült worden waren.

An diesem Tag entschieden wir, dass es zu gefährlich sei, und wir das Mädchen deshalb auf dem Baum zurücklassen müssen. Dies widersprach allem, wofür wir stehen. Bei unserer Tätigkeit stehen Würde und Professionalität an oberster Stelle und im Bewusstsein, wie viel Leid den Menschen zugefügt wird, die das Kind weiterhin auf diesem Baum sehen müssten, war es für uns extrem schwierig, nichts unternehmen zu können.

Zum Glück suchte uns die Dorfgemeinschaft einige Tage später wieder auf – sie wollten einen besseren Zugang zum Baum sicherstellen. Sie verscheuchten die Krokodile mit Kanus und trotz der Angst vor Schlangen konnten wir die Leiche des Mädchens bergen, indem wir sie mit Seilen aus den Ästen hievten. Sollte die Leiche ins Wasser fallen, standen Helfer in Kanus bereit, um sie rasch wieder herauszuholen.

Wir konnten das Mädchen bestatten und ein Grab für sie errichten. Ich war extrem erleichtert, denn es wäre für mich unvorstellbar gewesen, das Land im Wissen zu verlassen, dass die Leiche vor ihrer Verwesung noch mehrere Wochen in den Ästen eines Baumes feststecken würde.

Das Mädchen liegt nun begraben und ruht in Frieden. Und ihre Familie hat einen Ort, um ihr zu gedenken.