Artikel

COVID-19, Gewalt und Klimawandel am Tschadsee: Hirten in Not

In der Region des Tschadsees – von Fouli bis Kouloudia, Wayi und Mamdi – verschwindet immer mehr Weideland. Zahlreiche Tiere verenden und die Hirten sind verständlicherweise in Sorge. Erschwerend kommt hinzu, dass die jüngsten Massnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie die Hirten hindern, an Viehmärkte zu ziehen. Ihre Verzweiflung ist in vielen Dörfern sehr spürbar.

„Wegen der bewaffneten Gruppen hier in der Gegend war es schon früher nicht leicht, umherzuziehen. Nun gibt es diese Plage, die uns hindert, Vieh auf dem Markt zu verkaufen. Es ist eine Katastrophe. Vielleicht sogar das Ende der Welt?" fragt sich Ali.

Ali ist ein Hirte aus Kouloudia in der tschadischen Region Lac. Wie er uns seinen Alltag schilderte, hat uns sehr bewegt. Seine Lage wird nicht zuletzt auch deshalb immer schwieriger, weil die Behörden grosse Menschenansammlungen verbieten, um das Coronavirus einzudämmen.

Alis Lebensweise ist wie die vieler Hirten in der Region durch die Auswirkungen von nicht weniger als drei gleichzeitigen Gefahren bedroht: von bewaffneter Gewalt, dem Klimawandel und der Pandemie. IKRK

Frieden und soziale Stabilität kennt die Region schon seit 2015 nicht mehr. Angriffe bewaffneter Gruppen und Gefechte zwischen solchen Gruppen und den Streitkräften sind an der Tagesordnung. Im März 2020 leitete die tschadische Armee eine gross angelegte Offensive ein, nachdem einer ihrer Stützpunkte angegriffen worden war. Seither gilt die Region als Kriegsgebiet.

Die Zivilbevölkerung trägt die Hauptlast von Klimawandel und Konflikt; die Menschen haben Angehörige und ihr Hab und Gut verloren. Viele entschlossen sich oder sahen sich gezwungen zu flüchten und alles zurückzulassen in der Hoffnung, der Gewalt zu entkommen und anderswo ein besseres Leben zu beginnen. Nach Angaben des Büros der Vereinten Nationen für die Koordination humanitärer Angelegenheiten (OCHA) wurden im Tschad nahezu 170 000 Menschen in der Region Lac vertrieben, also rund ein Drittel der Bevölkerung. Die Hirten sind besonders schwer betroffen.

2020 wurde die Lage durch zwei zusätzliche Probleme noch verschlimmert: eine in den vergangenen 30 Jahren beispiellose Futterknappheit und die COVID-19-Pandemie. Das Futter war wegen der unregelmässigen Niederschläge im Vorjahr sehr knapp. Und die Verbote im Zusammenhang mit der Pandemie haben das Leben der Hirten noch schwerer gemacht.

Viele Hirten müssen ihre nomadische Lebensweise aufgeben. IKRK

„Normalerweise helfen uns die Tiere, zu überleben. Heute müssen wir die wenigen Nahrungsmittel, die wir für uns und unsere Kinder haben, mit den Tieren teilen. Dabei wissen wir nicht einmal, ob sie überhaupt bis zur nächsten Regenzeit überleben werden", sagte Falmata Mahamat, die Frau eines Hirten.

 

Viele Tiere verenden, weil es an Futter und an Weideland fehlt. IKRK

Der Hirte Al-haddsch Mahamat erklärt, weshalb es selbst nach Aufhebung der Einschränkungen zwecklos ist, seine Tiere auf den Markt zu bringen: Seine Herde ist in einem erbärmlichen Zustand.

"Wer würde auch nur einen Centime für diese halb verhungerten, halb toten Tiere ausgeben? Wenn es so weitergeht, wird die ganze Herde verenden. Und wir werden mit ihr sterben."

Das IKRK will die Hirten mit einem Programm unterstützen, in dessen Rahmen 105 Tonnen Futtermittel und 75 Tonnen Kleie an mehr als 8100 Hirten und ihre Familien in zwölf der am schwersten getroffenen Dörfer der Region Lac, darunter Kaya und Fouli, verteilt werden.

Seit Ausbruch des bewaffneten Konflikts in Nigeria vor mehr als einem Jahrzehnt und seiner Ausweitung auf die Region des Tschadsees raubten Bewaffnete Tausende von Rindern, Schafen, Ziegen und Kamelen, sodass die Hirten heute noch ärmer und hilfloser sind als zuvor. Wegen der Kämpfe ist es gefährlich, auf der Suche nach besseren Weideflächen mit den Herden umherzuziehen. Zudem wurde der Zugang zu Weideland eingeschränkt und grenzüberschreitender Handel verboten. Die wichtigste Grundlage der Weideviehwirtschaft – Bewegungsfreiheit – wird unterminiert.