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Demokratische Republik Kongo: Ein neues Leben und neue Herausforderungen

Hélénes Dorf in der Provinz Nord-Kivu im Osten der Demokratischen Republik Kongo (DRK) ist von bewaffneten Gruppierungen überfallen worden. Die junge Frau hat sich freiwillig gemeldet, um die Betreuung von rund zehn Kindern zu übernehmen, deren Eltern bei dem Angriff getötet wurden.

In Beni in der Provinz Nord-Kivu geht allmählich die Sonne unter, während Hélène immer noch in der Küche steht. In wenigen Minuten versammeln sich ihre 16 Kinder zum Abendessen – auf den Tellern liegen Bohnen und Kochbananen.

„Meine beiden biologischen Kinder beschweren sich oft und finden, dass ich ihnen nicht genug Aufmerksamkeit schenke. Das trifft mich wirklich hart, denn ich will doch allen gerecht werden", erklärt Hélène.

Trésor Isse Katavali/IKRK

Es bedurfte nur einer einzigen Nacht, damit die junge Frau sich als Mutter einer mehrköpfigen Familie wiederfand. In der besagten Nacht stürmten bewaffnete Kämpfer ihr Dorf Mavivi, plünderten die Häuser, brannten sie nieder und töteten zahlreiche Bewohner. Sie alle fanden Schutz in einer Flüchtlingsunterkunft; seither versammeln sich die unbegleiteten und völlig verstörten Kinder regelmässig um Hélène. 

Einige der Kinder sind infolge von Vergewaltigungen zur Welt gekommen. „Sie alle haben bei diesem Angriff ihre Mutter verloren. So haben sie sich an mich gewandt, weil sie mich kennen. Ich hatte mit ihren Müttern in einem Verein gearbeitet, der sich vor allem um Frauen kümmert, die sexuelle Gewalt gerlebt haben. Wir haben ihnen geholfen, sich mit kleinen Aktivitäten ihr Leben neu aufzubauen. Ich habe ihnen gezeigt, wie man auf dem Feld arbeitet", erzählt die junge Frau.

Das Leben ist für Hélène nicht leicht, denn sie muss ohne Unterlass etwas zu essen für die Kinder besorgen und für deren Sicherheit sorgen, da sie mitunter die Nacht unter freiem Himmel in der Nähe eines Militärstützpunktes verbringen. So hat sie nach zwei Jahren beschlossen, mit der gesamten Familie nach Beni zu ziehen, wo das Leben deutlich einfacher ist.

Ein neues Leben und neue Herausforderungen

Beni liegt rund zwölf Kilometer von Mavivi entfernt und hat kaum unter den bewaffneten Angriffen gelitten. Laut Angaben des Amts für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) hatten sich am 30. Juni 2022 rund 40 000 Menschen, die vor der bewaffneten Gewalt in der Region geflüchtet sind, dort niedergelassen. Es ist eine lebhafte Stadt mit einer regen Wirtschaftstätigkeit.

Hélène hat Zuflucht bei ihrer Schwester gefunden und lebt seit nunmehr sechs Monaten mit ihren Kindern in Beni. Sie wird von einer religiösen Organisation unterstützt, die sie auch in einem etwas grösseren Haus untergebracht hat. Aber sowohl bei ihrer Schwester als auch in ihrem neuen Zuhause bleibt die Versorgung der Kinder mit Essen und Kleidung eine echte Herausforderung.

„Um für das Essen zu sorgen, bin ich entweder auf Almosen angewiesen, oder jäte und ernte als Tagelöhnerin auf den Feldern verschiedener Privatpersonen", erklärt sie mit leiser Stimme. „Die Kinder müssten eigentlich zur Schule gehen, aber ich kann es mir nicht leisten. Ich kann das Schulmaterial einfach nicht bezahlen."


Hélènes Geschichte in Bildern

In Beni hat Hélène Familienangehörige einiger ihrer Kinder wiedergefunden und veranlasst, dass die Kinder in ihre Familien zurückkehren. Im Ort ist sie bereits als diejenige bekannt, die sich um alle „Kriegs"-Waisen kümmert. Deshalb bringt man ihr immer wieder neue Kinder zur Betreuung.

„Von den Kindern, mit denen ich aus Mavivi hergekommen bin, sind nur noch sechs bei mir. Aber man hat mir schon andere gebracht. Manche hat man mir einfach ohne mein Wissen vor meiner Tür abgelegt, so wie vor Kurzem dieses ca. zwei Monate alte Baby. Das Sozialamt bringt auch Kinder vorbei, wenn sie nicht genug Platz haben, um diese unterzubringen." Derzeit betreut Hélène 16 Kinder im Alter zwischen zwei Monaten und 14 Jahren, darunter ein 14-jährigen Mädchen, das ihren Peinigern entflohen ist. Die Jugendliche ist im sechsten Monat schwanger. Hélène sieht ihrer Rolle als Grossmutter trotz allem etwas weniger verzweifelt entgegen.

Eine lang erwartete Entlastung

Nach dem Massaker in ihrem Dorf erlitt Hélène ein Trauma. Das IKRK hat sie vor allem im Rahmen einer psychosozialen Betreuung unterstützt. Dann wurde die junge Frau in das Programm für wirtschaftliche Sicherheit des Hilfswerks aufgenommen und finanziell unterstützt.

„Es bedurfte mehrerer Sitzungen, um Hélènes Schmerz auf ein erträglichen Mass zu reduzieren", erklärt Adèle Muhayirwa, psychosoziale Betreuerin im Gesundheitszentrum von Mangothe. „Auf psychologischer Ebene sind die Erinnerungen an die schmerzhaften Ereignisse immer wieder zurückgekehrt. Körperlich zeigte sich dies an Kopfschmerzen und starken Verdauungsproblemen. Und sie hat immer wieder ihre Zukunftsängste betont, wenn sie an die Betreuung ihrer Kinder dachte." Hélène erhielt vom IKRK Bargeldzuweisungen sowie eine Ausbildung, mit der sie lernen konnte, sich ein Einkommen zu erwirtschaften.

„Als ich dieses Geld bekam, habe ich zunächst die Rechnungen für die medizinische Versorgung von zwei Kindern bezahlt und ein Festessen für die ganze Familie organisiert. Zum ersten Mal seit vier Jahren konnten die Kinder so viel essen und trinken, wie sie wollten", erinnert sie sich.

Ein autonomes Leben trotz aller Schwierigkeiten

Das IKRK stellt von bewaffneten Konflikten betroffenen Menschen finanzielle Unterstützung bereit, um deren soziale und wirtschaftliche Wiedereingliederung langfristig zu verbessern.

Von Januar bis Juni 2022 erhielten 889 Familien, d.h. 5 355 Personen, in dem seit über 20 Jahren von Gewalt und bewaffneten Konflikten betroffenen Osten der DRK eine solche finanzielle Unterstützung.

Trésor Isse Katavali/IKRK

Diese Momente der Freude haben ihren Blick auf die Zukunft aber dennoch nicht verstellt. Sie denkt immer morgen und hat sich rasch ein kleines Geschäft aufgebaut. Es ist der einzige Laden in ihrem Viertel, in dem zahlreiche, nur schwer zu bekommende Produkte aus der Region angeboten werden.

Die Einnahmen teilt sie auf zwischen den Kosten für ihr Geschäft, ihr Haus, die medizinische Versorgung und das Schulgeld, das mit der Einführung des landesweit kostenlosen Grundschulunterrichts Ende 2019 leicht gesunken ist. So konnte sie zwölf Kinder in der Grundschule und zwei in der weiterführenden Schule anmelden.

„Dass wir heute noch Leben, haben wir guten Menschen und Hilfsorganisationen zu verdanken. Ich danke ihnen allen und ich danke auch Mama Hélène. Möge Gott sie alle segnen", erklärt die elfjährige Elisé.

Hélène ist nun alleinverantwortlich für ihr „Waisenhaus" und hat mit der Aufzucht von Hühnern und Ziegen begonnen. Sie hofft auf Unterstützung anderer Geldgeber, um sich ein Stück Land zu kaufen, das sie bewirtschaften kann. Sie hat bereits Saatgut und eine Sprühvorrichtung für Düngemittel erworben. Hélène tut alles, was in ihrer Macht steht, um den Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen.

„Ich weiss, wie ich Tomaten und Amaranth in Hülle und Fülle produzieren kann. Wenn ich die notwendige Unterstützung erhalte, zeige ich allen, was ich zu leisten imstande bin", sagt sie mit einem entschlossenen Lächeln.