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Jemen-Konflikt: Die Augen lügen nie

Ein altes jemenitisches Sprichwort sagt, man müsse einem Menschen in die Augen schauen, wenn man wirklich wissen will, wie es ihm geht. Die Augen verraten alles.

Panik, Verlust, Verzweiflung, Tod, Angst – all das habe ich in den Augen meiner Mitmenschen gesehen. Ich versuche, stark zu bleiben, wenn ich ihre Geschichten höre. Ich versuche, Kraft und Hoffnung zu vermitteln. Aber auch meine Augen verraten die Wahrheit.

Als der Konflikt in Jemen ausbrach, ging ich fälschlicherweise davon aus, dass er nur wenige Monate dauern würde. Und nach sechs Jahren herrscht immer noch Krieg.

Wer nie in einer Kriegszone gelebt hat, kann sich nicht wirklich vorstellen, was es bedeutet. Der Tod ist ein ständiger Begleiter. Eine verirrte Kugel, sporadische Kämpfe oder unvorhersehbares Geschützfeuer. Das ist unsere Normalität.

Ich fürchte mich nicht vor dem Tod. Angst macht mir hingegen, was mit meiner fünfjährigen Tochter passieren könnte, wenn ich diese Welt verlasse. Ich lebe für sie und ich lebe, um den früheren Jemen wiederzusehen.

Ich schreibe diese Worte nieder, da dieses Jahr für mich mit einem persönlichen Jubiläum verbunden ist. Vor zehn Jahren habe ich beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) angefangen. Eine Gelegenheit, um innezuhalten.

Als ich meine Stelle als unerfahrener 23-Jähriger antrat, sagte ich mir, dass das Leben es endlich gut mit mir meinte. Doch ich habe mich stark getäuscht.

Weigerung, einkaufen zu gehen

Als der Konflikt im März 2015 ernsthaft ausbrach, war es sehr schwierig zu verstehen, was passierte. Nachbarn und Freunde verliessen nach und nach ihre Dörfer. Die Leute beeilten sich, möglichst viele Nahrungsmittel einzukaufen.

Seither stand das Land mehrmals am Rande einer Hungerkatastrophe. Auch heute ist die Nahrungsmittelknappheit akut und sehr viele Menschen sind unterernährt.

Basha'er Ahmed Saeed, 4 Jahre alt, leidet neben Hirnatrophie und Epilepsie auch an akuter Unterernährung – Taha Saleh\ICRC

Über 16 Millionen Menschen leiden unter Nahrungsmittelunsicherheit. Unsicherheit? Ich finde dieses Wort merkwürdig. Es wird der Realität nicht gerecht. Ich werde Ihnen sagen, wie Unsicherheit aussieht.

Frauen und Kinder betteln auf der Strasse um das kleinste Stück Brot. Hunger leidende Kinder aus Haut und Knochen. Nahrungsmittelpreise, die um 150 % in die Höhe geschnellt sind. So sieht die Realität aus.

Manchmal weigere ich mich, einkaufen zu gehen, da ich mich schuldig fühle, Nahrungsmittel zu kaufen, während andere hungern. Ich fühle mich so hilflos. Die Bedürfnisse übersteigen unsere Fähigkeiten.

Mein Job bringt es mit sich, dass ich jeden Winkel dieses wunderbaren Landes bereist habe. Das ist ein Privileg und ich schätze mich glücklich, dabei so viele Leute getroffen zu haben.

Ihre Charaktere sind unterschiedlich, doch die Geschichten gleichen sich. Ich erinnere mich an eine alte Frau, die sich in einem vom IKRK unterstützten Cholera-Zentrum in Hodeida behandeln liess.

Sie zeigte mir ein Foto von ihr als junge Frau. Ihr Gesicht war voller Schönheit und Energie.

Als ich sie traf, war nichts davon übrig. Sie war ein anderer Mensch. Ihr Mann war 2016 bei einer Explosion ums Leben gekommen. Da sich niemand um die Familie kümmerte, musste sie mit ihren drei Töchtern auf der Strasse um Nahrungsmittel betteln.

Wir redeten, hörten zu und weinten zusammen. Ihre Geschichte ist nur eine von Millionen.

Ein mutmasslicher Covid-19-Patient wird in einem durch das IKRK unterstützten Gesundheitszentrum in Aden behandelt – Mubarak Saeed/ICRC

Cholera bricht aus, wenn es den Menschen an sauberem Wasser und Sanitäranlagen fehlt. Das Land erlebt den schlimmsten Cholera-Ausbruch aller Zeiten. Seit Dezember 2020 wurden über 2,5 Millionen Fälle und beinahe 4'000 Tote gezählt.

Cholera, Diphtherie und nun Covid-19. Jemen kennt Krankheitsausbrüche.

Die zwei Gesichter des Jemen

Verzweifelte Menschen treffen verzweifelte Entscheide, um zu überleben. Zunächst werden Habseligkeiten verkauft – Schmuck, Kleider, Möbel. Danach kommt das Haus, im Bewusstsein, dass man auf der Strasse landet.

Dazu führt Krieg. Er zerstört dich in jeder Hinsicht und zwingt dich, herzzerbrechende Entscheide zu treffen.

Erst unlängst haben wir damit begonnen, dem Schaden, den er für die Psyche anrichtet, grössere Aufmerksamkeit zu schenken.

Ich bin so vielen Menschen mit schweren psychischen Problemen begegnet. Man denkt, dass sie stark sein müssen, weil sie bis heute überlebt haben. Vielleicht. Doch mental leiden sie jeden Tag.

Der Lärm von Geschützfeuer und Explosionen ist eine ständige Qual. Familien können sich keine medizinische Behandlung leisten, weshalb sie mit den seelischen Narben leben.

Zwei Geschwister aus Hodeida warten in einer prekären Unterkunft, nachdem ihre Familie vor der Gewalt an der jemenitischen Küste des Roten Meeres geflohen ist – Ali Al Sonidar/ICRC

Ich bin besorgt über die Folgen für künftige Generationen. Kinder mussten so viel Gewalt und Zerstörung erleben und es gibt keine Unterstützung für sie.

Ich habe Kinder getroffen, die nicht zur Schule gehen wollen aus Angst, dass auf sie geschossen werden könnte. Einige haben sich komplett zurückgezogen, sind sehr ruhig und introvertiert geworden. Andere sind Gewalt gegenüber verroht. Die langfristigen psychischen Auswirkungen werden gravierend sein.

Das ist der Jemen von heute. Doch ich erinnere mich an einen anderen Jemen.

Mein Jemen war voller Leben und sehr dynamisch. Wenn Sie vor dem Konflikt nie im Land waren, können Sie nicht wissen, wie atemberaubend schön es ist.

Die Landschaft in Jemen ist unbeschreiblich schön: die Naturschätze der Insel Sokotra; das surreale Sana'a, eine der ältesten Städte der Welt und UNESCO-Weltkulturerbe; die grüne Landschaft von Ibb; die Wüstenarchitektur von Hadramaut.

Früher kamen Touristen aus der ganzen Welt und schlenderten durch die Strassen der Altstadt von Sana'a, kletterten auf die Berge von Taiz, zelteten in der unendlichen Wüste von Hadramout und erfreuten sich der Morgensonne von Aden.

Diesen Jemen wünsche ich mir zurück. Nur Frieden kann uns dorthin zurückbringen und unsere Hoffnungen und Träume wieder aufleben lassen. Vielleicht bringt dann eine positivere Geschichte unsere Augen zum Leuchten.

Basheer Omar ist Sprecher des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Jemen

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