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Kamerun: Leben mit Behinderung in Zeiten von COVID-19

Wie kann man Physical Distancing wahren, wenn man blind oder sehbehindert ist? Judith, Bienvenu, Jules und Soubiane leben in einer Einrichtung für Sehbehinderte in Yaoundé. Sie sprechen mit uns darüber, wie COVID-19 ihren Alltag verändert hat. Obschon sich das Gefühl der Isolation verstärkt hat, schaffen sie es, ihr Leben optimistisch und solidarisch zu meistern. Der Fotograf Daniel Beloumou hat sie getroffen.

„Die Türen der Einrichtung stehen allen offen, unabhängig davon, ob sie blind, sehbehindert, verlassen oder verwaist sind bzw. psychische Probleme haben." Die 95-jährige Edwige Mbazoa leitet seit über 20 Jahren die Einrichtung Daniel-Rouffignac in einem Vorort von Yaoundé in Kamerun. Unter ihrer wohlwollenden Aufsicht wachsen rund zwanzig Kinder und Jugendliche auf, die davon träumen, sich trotz widriger Umstände, schwieriger persönlicher Lebenssituationen und einem wirtschaftlich angespannten Umfeld einen Platz in der Gesellschaft ausserhalb der schützenden Mauern der Einrichtung zu schaffen.

Soubiane Amandjoda, 27 Jahre, stammt aus dem Norden.

Ich höre immerzu die Nachrichten. So habe ich erfahren, dass das Coronavirus da ist. Ich habe sofort die Abstandsregeln eingehalten und draussen meine Maske getragen.

"Ich tue alles, um als normaler Mensch betrachtet zu werden. Ich habe sehende und blinde Freunde und wenn eine Frau nein sagt, denke ich, dass sie einfach nicht interessiert ist. Das hat nichts damit zu tun, dass ich blind bin."

Seit der Ausgangs- und Kontaktsperre ist die Situation für sehbehinderte Menschen in Kamerun noch schlimmer geworden. Vor dem Virus hatte ich ein kleines Geschäft, dass mir jeden Tag zwischen 1 000 und 2 000 CFA-Franc (ca. 1,50 bis 3 Euro) eingebracht hat. Ich habe mich mit Freunden und der Familie getroffen. Heute ist es unmöglich, klarzukommen. Ich habe schlicht kein Geld mehr.

Unsere Angehörigen wollen uns nicht mehr besuchen und wir können auch nicht zu ihnen. Wir können uns weder austauschen noch berühren, uns nicht gegenseitig helfen und mit anderen Leuten reden. Ich hoffe, dass es bald vorbeigeht. Ich möchte gerne in der Personalabteilung eines Unternehmens arbeiten.

Judith Minfoumou, 18 Jahre, Schülerin im 2. Jahr, stammt aus der Region Centre.

Ich bin mit 13 Jahren in die Einrichtung gekommen. Seither hat mich meine Mutter erst viermal besucht. Ich bin nicht blind geboren. Ich leide am Grauen Star und kann lediglich bestimmte Farben und Formen auseinanderhalten. Als Kind konnte ich gut sehen und habe oft mit meinen zehn Brüdern und Schwestern gespielt.

Ich habe im Radio vom Coronavirus gehört. Es ist eine tödliche Krankheit, die sich durch den Kontakt mit erkrankten Menschen überträgt. Deshalb muss man sich regelmässig die Hände unter fliessendem Wasser mit Seife waschen und eine Maske tragen. Wir gehen nur raus, wenn es notwendig ist.

Ich weiss, wo die verschiedenen Wasserstellen sind, um sich die Hände zu waschen. Ich finde den Weg dorthin ganz alleine.

"Die Einhaltung des Abstands von einem Meter zu einem anderen Menschen ist kompliziert. Aber bei uns im Viertel ist noch niemand krank und weil wir unter uns bleiben, ist es nicht schlimm."

Ich liebe Musik und singe immerzu. Meine Lieblingssänger sind Dynastie, Le Tigre und Yeme Alade. Ich möchte später auch Sängerin werden.

Emmanuel Gaïmava, 19 Jahre, studiert Politikwissenschaften an der Universität von Yaoundé.

Von meinen sieben Geschwistern bin ich der einzige, der blind ist. Ich leide an Onchozerkose.

Ich liebe die Rechtskurse, weil sie mir ermöglichen, für Gerechtigkeit zu sorgen. Aufgrund der Pandemie sind die Vorlesungen an der Universität seit März 2020 ausgesetzt. Ich kann es kaum erwarten, dass die Kurse wieder losgehen.

Ich weiss, dass die Krankheit tödlich ist und niemand hier sich anstecken will. Im Alltag halte ich die Abstandsregeln ein und trage draussen immer eine Maske, um mich und andere zu schützen.

"Seit COVID-19 hat sich vieles verändert. Vorher haben andere Studierende oder Fremde mir geholfen, die Strasse zu überqueren. Heute haben die Menschen Angst, mich zu berühren. Es ist anders heute, aber ich verstehe es."

Ich glaube zwar, dass die Pandemie zu einer gewissen Isolation führt, aber fühle mich selbst nicht komplett isoliert. Um mich zu beschäftigen, höre ich Musik – vor allem R'n'B – und ich lese gerne.

Die Gefahr einer Ausbreitung von COVID-19 hat vieles verändert, wie Edwige erklärt: „Die Krise hat zu einem deutlichen Rückgang der Spenden geführt. Die Bevölkerung und die Institutionen, die uns unterstützen, sind nicht mehr so grosszügig."

Brigitte Waniwa, 12 Jahre, Grundschülerin im 1. Jahr, stammt aus Maroua

Ich bin komplett blind, aber ich erinnere mich daran, wie ich als kleines Mädchen oft mit meiner Mutter auf den Markt gegangen bin, um mit Bohnen gefüllte Teigtaschen zu verkaufen. Ich lebe seit 2016 mit meinem Bruder Emmanuel hier. Meine Familie hat uns nur einmal besucht. Zum Glück verstehen wir uns hier alle gut.

"Ich habe aus den Nachrichten gelernt, dass das Coronavirus tödlich ist und man sehr aufpassen muss."

Als es noch Unterricht gab, haben uns die Lehrerinnen und Lehrer viel über das Virus erzählt. Jetzt wasche ich mir die Hände immer unter fliessendem Wasser mit Seife und begrüsse die anderen nur mit einem ,Guten Tag'.

Seit dem Coronavirus gehe ich nicht mehr raus zum Spielen. Wir bleiben immer hier. Manchmal helfe ich in der Küche und schneide oft die Zwiebeln. Ich flechte meiner Puppe gerne Zöpfe. Sie heisst Barbie. Wenn ich gross bin, will ich Friseurin werden.

Jules Mollo, 24 Jahre, Gymnasiast im letzten Jahr an der Adventistenschule in Yaoundé

Seitdem wir die von der Regierung verhängten Abstandsregeln einhalten, leben wir hier unabhängig und ein wenig isoliert. Diese Isolation schützt uns. Obwohl das Physical Distancing schwer umzusetzen ist, halten sich hier alle an die Massnahmen. Die Eimer sind immer mit Wasser gefüllt und es liegt Seife bereit. Alle, die rausgehen, tragen eine Maske, und alle, die reinkommen, waschen sich die Hände.

Ich denke, man darf den physischen Abstand zwischen zwei Personen nicht mit der sozialen Distanz und den unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen verwechseln. Vor dem Coronavirus war ich als Blinder manchmal Opfer sozialer Ausgrenzung und einer Stigmatisierung. Jetzt ist es viel schlimmer. Mit dem Coronavirus ist alles viel komplizierter.

"Mein soziales Leben ist komplett zusammengebrochen. Wenn das Virus ein Mensch wäre, würde ich ihm eine reinhauen!"

Ich habe keine gesellschaftlichen Kontakte mehr und kein Einkommen. Freunde, Fremde, Familie und Gönner – fast niemand kommt hier vorbei. Vorher bin ich zur Schule gegangen, habe Fussball gespielt und Kampfsport betrieben. Ich bin auch in die Kirche gegangen.

Ich weiss zwar nicht wann, aber ich bin sicher, dass diese Krankheit wieder weggeht. Ich bin seit 14 Jahren hier und möchte später Priester werden.

Bienvenu Yaya, 26 Jahre, Student an der pädagogischen Hochschule

Ich liebe die Ferien, aber das ist zu viel! Ich will keine Ferien mehr haben. Ich will, dass die Schule wieder losgeht. Am Anfang dachte ich, dass Kamerun nicht betroffen sein würde, aber diese Krankheit ist überall. Die Zahlen steigen jeden Tag. Ich habe es an dem Tag verstanden, als der Premierminister Schulen, Märkte und Restaurants geschlossen hat.

Es gibt viele Restaurants in Yaoundé, in denen es weder Eimer noch Seife gibt, um sich die Hände zu waschen. Und manche Religionsvertreter predigen ihren Gläubigen, dass es die Krankheit überhaupt nicht gibt. Ich hoffe, dass man ein Mittel findet, dass für alle da ist.

"Ich denke, es ist schwierig, die Massnahmen der Regierung komplett einzuhalten, weil sie überhaupt nicht zur Mentalität unserer Gesellschaft passen."

 

Ich kenne die Symptome von COVID-19 und halte mich an die Abstandsregeln. Es ist fast schon zu einer Gewohnheit geworden. Seit der Pandemie gehen wir kaum noch aus, alle haben Angst vor dem Coronavirus; es ist wie ein Gefängnis. Vorher ging es mir recht gut: Ich hatte ein Geschäft, bin zur Schule gegangen, habe mich mit Freunden getroffen und mit Menschen auf der Strasse gesprochen. Das gibt es jetzt alles nicht mehr.

Ich fühle mich ein wenig isoliert, weil Freunde und Familie nicht mehr herkommen können. Man kann nicht mehr ausgehen wie vorher, aber hier sind wir nicht alleine und helfen uns gegenseitig.

Alle Fotos: Daniel BELOUMOU / IKRK