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Nigeria: Wettlauf gegen die Zeit – Familienzusammenführung in Zeiten von COVID-19

Während die Angst vor einer Ausbreitung der Pandemie in Nigeria wächst und immer mehr Bundesstaaten ihre Grenzen schliessen, gelingt es dem IKRK, eine Mutter und eine Tochter, die durch den Konflikt getrennt wurden, wieder zu vereinen.

Während die Angst vor einer Ausbreitung der Pandemie in Nigeria wächst und immer mehr Bundesstaaten ihre Grenzen schliessen, gelingt es dem IKRK, eine Mutter und eine Tochter, die durch den Konflikt getrennt wurden, wieder zu vereinen.

Vier Jahre lang waren sie wegen des Konflikts im Nordosten Nigerias getrennt. Hätten sie sich je vorstellen können, dass eine weltweite Pandemie ihre Zusammenführung verzögern könnte? Für Alia* und ihre Tochter, die beide die seelischen Narben der Trennung tragen, dauerte es bereits zu lange.

Da die Zahl der bestätigten Fälle von Woche zu Woche stetig zunimmt, haben die nigerianischen Behörden die Präventionsmassnahmen verstärkt und in mehreren Bundesstaaten einen Lockdown verhängt, um die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen.

Im Bundesstaat Borno, dem Brennpunkt des Konflikts im Nordosten, sind die Zukunftsaussichten für viele Menschen recht bedrückend: Sie erwarten eine Ausbreitung des Virus in den überbelegten und überforderten Lagern, wo räumliche Distanz und Zugang zu sauberem Wasser bei Weitem nicht gewährleistet sind.

„Wir haben die Adresse der Mutter", sagt Safiya, nachdem sie mit den im Schatten versammelten Dorfältesten gesprochen hat.

Safiya arbeitet für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, das gemeinsam mit dem Nigerianischen Roten Kreuz Familien zusammenführt, die im Verlauf des Konflikts getrennt wurden. Unter der sengenden Sonne folgt Safiya einem der Ältesten zum Haus der Mutter. Sie gehen an einer Moschee vorbei, an der die Einschläge von Kugeln zu sehen sind; einige Gebäude liegen seit dem erneuten Aufflammen der Gewalt in Trümmern – eine schmerzliche Erinnerung daran, dass sich der Konflikt nicht entschärft und das Virus freie Bahn hat.

Die gute Nachricht hat sich in der ganzen Nachbarschaft verbreitet. Aicha* ist am Leben. Alle lassen stehen und liegen, womit sie gerade beschäftigt waren. Die Frauen, die unter einem Baum sitzen, haben plötzlich ein spannenderes Thema gefunden, über das sie reden können. Aichas Grossmutter steht von ihrem blauen Teppich im Flur auf, wo ein paar Zwiebeln, Blätter für die Suppe und Nüsse liegen.

Erleichterung und Freude herrschen in dem winzigen Hof, in dem sich Nachbarn und Verwandte versammelt haben. Aichas Foto geht von Hand zu Hand, als ob sie es nicht glauben könnten.
„Sie ist es... Ja, das ist sie... Ganz zweifellos ist sie es", sagen mehrere Frauen, als sie das Foto des Teenagers sehen.

Die lebhafte Grossmutter dankt Gott immer wieder dafür, dass er ihre Enkelin zurückbringt. Mitten im Getümmel steht eine schmächtige Frau, die noch nichts gesagt hat. Sie lächelt nicht und sie weint auch nicht. Ihr Schweigen sagt viel aus, wahrscheinlich mehr als die Aufregung um sie herum.

„Die Mutter hat nach dem, was ihrer Tochter passiert ist, fast den Verstand verloren", flüstert ein Nachbar.

„Wann wird Aicha zurückkommen?", fragt ein Verwandter.

Safiya hält inne und denkt an die jüngsten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die die Zusammenführung monatelang verzögern könnten.

„Innert eines Monats", sagt sie der Familie.

„Als sie nach Aichas Rückkehr fragten, dachte ich an das Coronavirus und die Probleme, die wir künftig haben könnten, wenn wir mit dem Helikopter unterwegs sind", erklärt Safiya später. „Ich wollte keine zu grossen Hoffnungen wecken, aber ich wusste, dass wir unser Bestes tun würden, um es möglich zu machen. Sobald wir ins Büro zurückkamen, leitete ich das Verfahren für die Zusammenführung ein".

Tausende von Eltern wie Alia sind immer noch auf der Suche nach ihren Kindern, die während des seit mehr als zehn Jahren anhaltenden Konflikts vermisst wurden.

Mittlerweile sind landesweit neue COVID-19-Fälle bestätigt worden, was die Behörden dazu veranlasst, die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zu verschärfen. Im Bundesstaat Borno, wo nur noch rund die Hälfte der rund 700 Gesundheitseinrichtungen in Betrieb ist, versuchen Behörden und humanitäre Organisationen, ihre Aktivitäten zu koordinieren.

Wie lange werden Safiya und ihr Team reisen und die Menschen wieder vereinen können? Niemand weiss es.

In der folgenden Woche fliegen sie schliesslich mit dem Helikopter in die Stadt, in der Aicha vor einigen Monaten Zuflucht gefunden hatte. Temperaturkontrollen, Händedesinfektionsmittel und kein Händeschütteln sind Vorsichtsmassnahmen, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern.

Nach ihrer Ankunft sieht sich Safiya nochmals die Akte an. Darin steht, dass Aicha 18 Jahre alt ist. Sie sieht aus wie 15 oder noch weniger und ist eingehüllt in einen violetten Schleier. Safiya zeigt ihr ein Foto der Familie. Aicha wird von ihren Gefühlen überwältigt, erkennt aber sofort ihre Angehörigen.

Dies ist meine Mutter, mein Onkel, meine Tante, meine Grossmutter.

Safiya erklärt der Betreuerin, wie und wann das Wiedersehen stattfinden wird. Aicha sitzt neben der Frau, die sich monatelang um sie gekümmert hat, und hört aufmerksam zu, ohne zu unterbrechen. Ihre dunklen Augen wandern, als sei sie noch dabei, das Geschehene zu verarbeiten.

Wenige Augenblicke später spricht sie mit ihrem Onkel über ein vom IKRK-Team zur Verfügung gestelltes Satellitentelefon, und plötzlich wird alles real. Beide Seiten sind nun davon überzeugt, dass sie sich wiedersehen werden. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.

„Wir werden versuchen, es zu schaffen... Aber wir wissen nicht, ob wir nächste Woche fliegen können...", sagen mehrere Mitglieder des Teams einige Tage vor dem Flug.

COVID-19 sorgt in einer ohnehin schon unberechenbaren Region für zusätzliche Ungewissheit.

Ein Lächeln überzieht Aichas Gesicht, bevor sie den Hubschrauber besteigt. Ihr Frühstück mit Kartoffelbrei und ein paar Habseligkeiten hat sie in einem schwarzen Rucksack. Während des ganzen Flugs bleibt sie ruhig und blickt hinunter auf die karge Landschaft. Im Auto unterwegs zu ihrem Haus versucht sie nach vier Jahren, wieder an ihre Vergangenheit anzuknüpfen. Sie erkennt die Hauptstrasse, dann die Polizeistation auf der rechten Seite und die Kreuzung, an der man zu ihrem Haus abbiegt.

Ein heisser Wind weht durch den Flur des Hauses, als Aicha hereinstürmt. Ein Schrei ist zu hören. Aichas Mutter hat ihre Stimme und ihre Tränen wiedergefunden.

„Ich werde nicht weinen", sagt die Grossmutter, während sie Aichas Hände nimmt. „Wenn ich anfange zu weinen, werden alle weinen."

*Die Namen wurden geändert.