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Prekäre Lage in nigerianischen Flüchtlingslagern nach jüngsten Kampfhandlungen

Nach Gewaltausbrüchen im Nordosten Nigerias sind zehntausende Menschen aus ihrer Heimat geflohen.

Die grosse Anzahl Neuankömmlinge in den städtischen Zentren strapaziert die bereits begrenzten Ressourcen und überfüllten Lager zusätzlich.

„Die Menschen hier wissen, was Not bedeutet", erklärt Markus Dolder, Leiter der IKRK-Einsätze in der Region.

„Wer als Bauer die verschiedenen Jahreszeiten – Hitze, Sandstürme, schwere Regenfälle – durchstehen muss, weiss, dass das Leben nicht einfach ist. Tag für Tag muss man hart dafür arbeiten. Aber das, was diese Menschen heute bewältigen müssen, ist von einem ganz anderen Ausmass."

Anfang 2019 flohen über 30 000 Menschen in die Stadt Maiduguri, und 20 000 gelangten nach Mungono, einer Stadt in der Nähe des Tschadsees. Weitere 35 000 Menschen flüchteten nach Kamerun.

Rund um Maiduguri gibt es 14 Flüchtlingslager und ein weiteres befindet sich derzeit im Aufbau. Bereits vor der jüngsten Welle von Neuankömmlingen war die Lage hier prekär.

„In einem der Lager mit besonders vielen Ankömmlingen steht die Infrastruktur kurz vor dem Zusammenbruch. Die eingerichteten Schulen mussten schliessen, weil sich zu viele Menschen im Lager aufhalten", fügt Dolder hinzu.

„Es gibt weniger Nahrung und Trinkwasser und der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist eingeschränkt. Angesichts der hohen Überbelegung besteht zudem ein erhöhtes Risiko des Ausbruchs von Krankheiten."

Viele der Menschen in diesen Lagern wurden bereits mehrmals durch die Gewalt vertrieben und müssen einen für sie ungewohnten Übergang vom Land- zu einem Stadtleben bewältigen.

Gemeinsam mit dem Nigerianischen Roten Kreuz verteilt das IKRK Lebensmittel und Soforthilfepakete, baut neue Unterkünfte, Wasserversorgungs- und Sanitäreinrichtungen.

„Derzeit versuchen wir vor allem, sicherzustellen, dass die Grundbedürfnisse der Menschen abgedeckt sind, damit sie in einer gewissen Würde leben können", erklärt Dolder.

„Wir leisten Soforthilfe, um so viele Menschen wie möglich unterstützen zu können. Wir werden unsere Anstrengungen längerfristig aufrechterhalten müssen."

Unsichtbare Kriegstraumata

Die Gewalt in der Region bedeutet auch, dass ein grosser Teil der Zivilbevölkerung mit Kriegsnarben leben muss – viele haben Schusswunden und Verletzungen durch Granatsplitter. Doch es sind die unsichtbaren psychischen Narben, die den grössten Schaden anrichten.

„Stellen Sie sich die schlimmsten Formen von Gewalt vor – zusehen zu müssen, wie Ihre Familie umgebracht wird und Ihr Dorf vollständig abbrennt, Ihr Zuhause verlassen zu müssen, ohne irgend etwas mitnehmen zu können. Das ist es, was einige der Menschen hier erlebt haben, und solche Erfahrungen können tiefgreifende psychische Traumata verursachen", erläutert Douglas Khayat, IKRK-Delegierter für psychische Gesundheit.

„Ausserdem müssen sie sich an eine städtische Umgebung anpassen. Einige hier waren noch nie zuvor in einer grossen Stadt."

Um den Menschen zu helfen, ihr Trauma zu überwinden, müssen sie als Erstes für die psychologischen Symptome sensibilisiert werden, die Sie möglicherweise erfahren.

Freiwillige des Nigerianischen Roten Kreuzes besuchen die Menschen in Häusern und Unterkünften in den Lagern rund um Maiduguri, um mit ihnen über psychische Gesundheit zu sprechen und sie zu ermutigen, Hilfe zu suchen.

In über drei Monate fortgeführten Gruppenberatungen können die Betroffenen anschliessend gemeinsam über das Erlebte sprechen und sich austauschen.

„Jeder Mensch ist anders und hat seine eigene Art, die Ereignisse zu bewältigen", legt Khayat dar. „Aber mit der Zeit sieht man die positiven Auswirkungen dieser Gruppensitzungen und wie sie den Menschen helfen, ihre Erlebnisse zu verarbeiten."

Am Ende der Sitzungen werden unter den Teilnehmenden „Leader" ermittelt, die wiederum ermutigt werden, weitere Gruppensitzungen einzuberufen und so ein soziales Netz aufzubauen, das den Menschen eine Anlaufstelle bietet.

„Nur eine beschränkte Anzahl Personen nimmt an den Sitzungen teil, aber die Auswirkungen reichen weit darüber hinaus", fügt Khayat hinzu.

„Bei einer depressiven Mutter leiden all ihre Kinder. Wenn wir dieser einen Frau helfen können, wird die ganze Familie davon profitieren. Das ist der Teil unserer Arbeit, durch den wir Leben retten."