Medienmitteilung

IKRK: Tausende Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen, medizinisches Personal und Patienten in den letzten fünf Jahren

Genf (IKRK) – Seitdem der UN-Sicherheitsrat vor fünf Jahren das Ende der Straffreiheit bei Übergriffen gegen Sanitätspersonal verlangt hat, waren nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) medizinisches Personal und Patienten in von Konflikten betroffenen Ländern sowie im Rahmen anderer Hilfseinsätze Tausenden von Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen ausgesetzt.

Zu den Angriffen, denen sich medizinisches Personal, Verwundete und Kranke ausgesetzt sahen, gehörten Totschlag, Vergewaltigung, physische Misshandlung, Plünderung und die Zerstörung von medizinischen Einrichtungen und Transportfahrzeugen. Ferner wurden auch Beeinträchtigungen der Gesundheitsversorgung – darunter beispielsweise die Verhinderung der Durchführung von Impfkampagnen oder die Weigerung, Krankenwagen an Kontrollpunkten passieren zu lassen, – verzeichnet.

Zwischen 2016 und 2020 zählte das IKRK insgesamt 3 780 Angriffe, mit Vorfällen in durchschnittlich 33 Ländern pro Jahr. Zwei Drittel der Angriffe und Vorfälle wurden aus Afrika und dem Nahen Osten gemeldet. Zu den vom IKRK verzeichneten Ländern mit den meisten Vorfällen gehörten Afghanistan, die Demokratische Republik Kongo, Israel und die besetzten Gebiete sowie Syrien. Aufgrund der Schwierigkeiten, solche Daten in Konfliktgebieten zu erheben, unterschätzen die Zahlen des IKRK aber vermutlich die tatsächliche Anzahl an Angriffen.

„Die Welt hat versagt, den Schutz der Kranken, Sterbenden und Verwundeten zu einer Priorität zu machen. Gesundheitsversorgung steht zwar aktuell ganz oben auf der weltweiten Tagesordnung, aber dennoch wird nicht genug getan, um medizinisches Personal und medizinische Einrichtungen zu schützen", sagte IKRK-Präsident Peter Maurer. „Leider werden mit jedem Angriff mehr Menschen daran gehindert, sich in dringend benötigte medizinische Behandlung zu begeben. Waffenträger müssen den universellen Wert medizinischer Versorgung und das im humanitären Völkerrecht verankerte Recht auf eine solche Versorgung respektieren."

Am 3. Mai 2016 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat seine erste Resolution zum Schutz der medizinischen Versorgung bei Konflikten. Die Resolution 2286 wird von 80 Staaten unterstützt und enthält Massnahmen, mit denen Staaten derartige Angriffe eindämmen können. Fünf Jahre später wird der Zugang zu medizinischer Versorgung infolge der Missachtung des humanitären Völkerrechts sowie der Behinderung bzw. in gewissen Fällen Kriminalisierung der Bereitstellung medizinischer Versorgung aber weiterhin beeinträchtigt. Ausserdem werden die Massnahmen aus der Resolution kaum umgesetzt.

„Es fehlt an politischem Willen und der entsprechenden Vorstellungskraft, wenn es um den Schutz von medizinischem Personal und Patienten geht. Staaten, die Fortschritte in diesem Bereich erzielen wollen, müssen mit gutem Beispiel vorangehen", erklärte Maciej Polkowski, Leiter der IKRK-Initiative „Health Care in Danger" (Gesundheitsversorgung in Gefahr), in deren Rahmen der sichere Zugang zu medizinischer Versorgung in bewaffneten Konflikten und anderen Notsituationen gewährleistet werden soll.

Bemühungen zur Reduzierung von Gewalt in Gesundheitseinrichtungen sind nicht umsonst. So arbeitete das IKRK in einem Land in Südostasien mit der Krankenhausverwaltung zusammen, um die Anzahl Schusswaffen, die in die Notaufnahme mitgebracht werden, zu reduzieren. Fünf Monate nach Projektbeginn stieg die Anzahl an konfiszierten Waffen von zwei auf 42 pro Monat und verringerte so das Risiko für Personal und Patienten auf der Station.

Zu den weiteren positiven Beispielen gehören:

El Salvador: Das IKRK und die El Salvadorianische Rotkreuzgesellschaft haben die an der medizinischen Notversorgung von Betroffenen bewaffneter Konflikte Beteiligten an einen Tisch gebracht und so für eine bessere Koordinierung und eine Verbesserung der Kompetenzen des Gesundheitspersonals gesorgt.

Libanon: Im dicht besiedelten palästinensischen Flüchtlingslager Ain al-Hilweh sind zahlreiche bewaffnete Gruppen aktiv und das IKRK konnte einige von ihnen dazu bewegen, unilaterale Erklärungen zum Respekt für Gesundheitseinrichtungen und medizinisches Personal zu unterzeichnen. Der Text der Erklärungen wurde auf Basis einer Vorlage des IKRK zusammen mit den Gruppen entwickelt. Bereits unmittelbar nach Unterzeichnung wurden einige positive Veränderungen verzeichnet.

Im Laufe des vergangenen Jahres hat die COVID-19-Pandemie die Bedeutung des Schutzes von Gesundheitseinrichtungen und medizinischem Personal weiter unterstrichen, sowohl aufgrund der wichtigen Arbeit dieses Personals für die Gesellschaft, als auch aufgrund des Aufkommens neuer Muster von Gewalt und Stigmatisierung. Von Februar bis Juli 2020 verzeichnete das IKRK 611 gewalttätige Vorfälle gegen medizinisches Personal, Patienten und medizinische Infrastruktur im Zusammenhang mit Einsätzen im Rahmen von COVID-19 – mehr als 50 % als im Durchschnitt.

Ein Beispiel soll dies veranschaulichen: In einem ländlich gelegenen Gesundheitszentrum im Südosten Kolumbiens bedrohte eine bewaffnete Gruppierung einen Arzt, der einen COVID-19-Patienten behandelte, der letztlich verstarb. Aufgrund dieser Bedrohungen sah sich der Arzt gezwungen, die Region zu verlassen, sodass die Einwohner ohne medizinische Versorgung zurückblieben.

Gewaltsame Angriffe sind für Patienten und Personal entsetzlich. Filippo Gatti war als Kinderpfleger im Südsudan tätig, als ein Kämpfer in den OP-Saal eindrang, eine Kalaschnikow auf ihn richtete und von ihm verlangte, zu sagen, ob das IKRK-Team einen feindlichen Kämpfer behandelte.

„Ich habe ihn zur Tür geführt und ihm die Frau auf dem OP-Tisch gezeigt. Das war wirklich Glück", sagte Filippo Gatti, jetzt leitender Pfleger beim IKRK. „Und der Typ sagte: ,Verschwindet. Wir kommen zurück und werden alle umbringen.' Wir haben all die Menschen entlassen und woanders hin gebracht, bei denen dies möglich war. Dann sind sie wirklich zurückgekommen und haben zwölf bettlägerige Patienten getötet. Das war eine der schrecklichsten Gewalttaten, die man sich vorstellen kann. Diese Gruppe hat nicht wirklich darüber nachgedacht, dass wir alle Menschen behandeln – unabhängig von ihrer politischen Zugehörigkeit oder ihrem Engagement in staatlichen oder nicht staatlichen Gruppen. Irgendwann wird aber der Zeitpunkt kommen, an dem auch sie medizinische Versorgung benötigen."

  •  Über die IKRK-Daten zu Angriffen auf medizinische Versorgung: Die Angaben betreffen Vorfälle im Zusammenhang mit der Bereitstellung medizinischer Versorgung, die zwischen Januar 2016 und Dezember 2020 von IKRK-Teams in durchschnittlich 33 Einsatzländern des IKRK, d.h. Ländern, in denen Konflikte oder Gewalt herrschen, pro Jahr erhoben wurden. Diese Angaben gelten in keiner Weise als abschliessend, sondern stehen eher stellvertretend für das, was das IKRK in seinen Einsatzländern erlebt. Da die Erhebung solcher Daten oftmals schwierig ist, unterschätzen die Zahlen vermutlich die tatsächliche Anzahl an Angriffen und Behinderungen.

Weitere Informationen:

Aurélie Lachant, IKRK Genf, alachant@icrc.org , Tel.: +41 79 244 64 05

Jason Straziuso, IKRK Genf, jstraziuso@icrc.org , Tel.: +41 79 949 35 12