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Die äusserst schwierige Sicherheitslage in Haiti sollte die humanitären Bedürfnisse der Menschen nicht überschatten

Von Sophie Orr, IKRK

Dieser Artikel wurde ursprünglich im Miami Herald publiziert.

Im Juli 2023 ist es zwei Jahre her, seit der haitianische Präsident Jovenel Moïse in seinem Haus erschossen wurde. Das Land versinkt im Chaos und es ist infolge der Gewalt quasi unmöglich, sich auf regelmässiger Basis mit Wasser oder Treibstoff zu versorgen bzw. Zugang zu einer medizinischen Versorgung zu erhalten.

Das Team des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Port-au-Prince beobachtet einen deutlichen Anstieg der Präsenz und Reichweite bewaffneter Gruppen in Haiti; mittlerweile werden bis zu 300 Gruppierungen in und rund um die im Wesentlichen unter ihrer Kontrolle stehenden Hauptstadt gezählt. Es ist daher nicht überraschend, dass sich die Berichterstattung über Haiti vor allem auf die problematische Sicherheitslage konzentriert; dabei geht es meist darum, ob und wie man auf Aufrufe zum Einsatz internationaler Kräfte reagieren soll, mit deren Eingreifen Recht und Ordnung wieder hergestellt werden sollen.

Allerdings überlagert dieser Fokus auf die Sicherheitslage eine ebenso wichtige andere Diskussion: Wie sollen greifbare Fortschritte bei der Erfüllung der grundlegenden Bedürfnisse der haitianischen Bevölkerung erzielt werden, die unter den Folgen des Anstiegs der Gewalt leidet. Es gibt mehrere haitianische und internationale Organisationen, die sich umfassend dafür einsetzen, das Leid zu lindern, aber sie benötigen mehr finanzielle und personelle Ressourcen.

Als IKRK-Regionaldirektorin für Amerika befürchte ich, dass die einseitige Berichterstattung über die Sicherheitslage im Land die Unterstützung und Aufmerksamkeit für die wichtige humanitäre Hilfe untergräbt und so letztlich unsere Möglichkeiten und die anderer Organisationen einschränkt, weiterhin Hilfsmassnahmen durchzuführen. Wir benötigen einen Ansatz, wonach die haitianische Bevölkerung selbst und die so dringend benötigte humanitäre Hilfe parallel zu den Sicherheitsaspekten berücksichtigt werden, um das politische Vertrauen in Haiti und im Ausland zu stärken.

Die Hälfte der Bevölkerung in Haiti leidet Hunger und nur wenige mehr haben Zugang zu sauberem Trinkwasser. Schulen und medizinische Einrichtungen sind geschlossen. Dies sind jedoch nur die sichtbaren Folgen, während die unsichtbaren genauso ernst sind. Die tägliche Angst vor Entführungen oder vor der Tatsache, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, stellt eine psychologische Belastung für viel zu viele Menschen dar.

Die umfassenden humanitären Bedürfnisse in Haiti sind alarmierend und haben ein Ausmass angenommen, das meine Organisation bei bewaffneten Konflikten weltweit beobachtet, welche die Nachrichten bestimmen. Aber ausserhalb von Haiti wird nur darüber berichtet, dass die Situation so verheerend ist und dass Lösungen unmöglich sind – all das führt zu einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Erschöpfung.

Anfang Jahr habe ich unsere Einsätze in Haiti besucht, in deren Rahmen wir lebensrettendes medizinisches Material an lokale Kliniken und Spitäler liefern, oftmals in Zusammenarbeit mit dem Haitianischen Roten Kreuz, das die von dem hohen Ausmass an Gewalt betroffenen Menschen behandelt. Aufgrund seiner neutralen Art, zu arbeiten, eines nachhaltigen Dialogs mit den Menschen über ihre vordringlichen Bedürfnisse und des Aufbaus von Kompetenzen bei den Menschen, um als Ersthelfer tätig zu werden, wahrt das IKRK den Zugang zu den Menschen vor Ort.

Und genau das ist die Botschaft: Fortschritt ist nicht unmöglich. Während zahlreiche Menschen in Port-au-Prince infolge der gegenwärtigen Sicherheitslage extrem schwer zu erreichen sind, ist ein humanitärer Zugang immer möglich und muss gemeinsam erreicht werden, um auf die aktuelle Notlage und den langfristigen Entwicklungsbedarf zu reagieren. Wir können helfen, Leben zu retten, wenn wir uns auf den Zugang zu den Menschen sowie humanitäre Probleme kümmern und wenn die haitianische Bevölkerung im Zentrum dieser Diskussionen bleibt.

Deshalb muss die internationale Gemeinschaft Haiti unterstützen und darf das Land nicht fallen lassen, wenn es um eine tragbare politische Lösung und die Intensivierung der Bemühungen von humanitären und Entwicklungsorganisationen auf nationaler und internationaler Ebene geht; sie sind es, die derzeit auf die Bedürfnisse der besonders betroffenen Menschen reagieren.

Die internationale Gemeinschaft muss einen neuen Dialog beginnen, der über die Sicherheitslage hinausgeht und einen mitfühlenden, inklusiven und zukunftsorientierten Ansatz in Haiti verfolgt. Den Botschaften von Unterstützung und Solidarität müssen Taten folgen, solange es den entsprechenden Raum zu Handeln gibt.

* Sophie Orr ist Regionaldirektorin für Amerika des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz