Humanitäres Völkerrecht - Häufig gestellte Fragen zu den Regeln des Krieges
Selbst in Kriegen gibt es Regeln. Was heisst das?
Es heisst: Zivilpersonen dürfen nicht angegriffen werden. Die Auswirkungen der eigenen Kriegsführung auf Zivilpersonen müssen soweit wie möglich begrenzt werden. Gefangene sind mit Menschlichkeit zu behandeln. Menschen dürfen nicht gefoltert werden.
Humanitäres Völkerrecht: Worum geht es?
Unter dem Begriff humanitäres Völkerrecht (HVR) versteht man eine Reihe von Regeln, die aus humanitären Gründen zum Ziel haben, die negativen Folgen bewaffneter Konflikte zu begrenzen.
Das HVR schützt Personen, die sich nicht oder nicht mehr an den Feindseligkeiten beteiligen. Dazu gehören beispielsweise Zivilpersonen, Sanitätspersonal, Mitarbeitende von Hilfswerken, Verwundete, Kranke und Schiffbrüchige bewaffneter Truppen, Kriegsgefangene und andere Gefangene. Ausserdem beschränkt das HVR die Mittel und Methoden der Kriegsführung, zum Beispiel im Hinblick auf den Einsatz bestimmter Waffen.
Man spricht im Zusammenhang mit dem HVR auch von „Kriegsvölkerrecht" oder dem „Recht der bewaffneten Konflikte". Das humanitäre Völkerrecht besteht aus Verträgen (die Genfer Abkommen, auch Genfer Konventionen genannt, und ihre Zusatzprotokolle sind die wichtigsten) und dem Völkergewohnheitsrecht.
Wann kommt das humanitäre Völkerrecht zur Anwendung?
Das HVR kommt ausschliesslich in bewaffneten Konflikten zur Anwendung. Neben einigen wenigen Verpflichtungen, die in Friedenszeiten umzusetzen sind (z. B. die Verabschiedung einschlägiger Gesetzgebung, die Vermittlung von Wissen und Ausbildung im Hinblick auf das HVR) gilt es nicht ausserhalb eines bewaffneten Konflikts.
Das HVR bietet zwei Systeme des Schutzes: den Schutz in internationalen bewaffneten Konflikten und den Schutz in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten. Internationale bewaffnete Konflikte sind bewaffnete Konflikte zwischen zwei oder mehr Staaten. Nicht-internationale bewaffnete Konflikte sind Konflikte, in denen Regierungsstreitkräfte gegen eine oder mehrere nicht-staatliche bewaffnete Gruppen kämpfen, oder in denen diese Gruppen einander bekämpfen. Welche Regeln zur Anwendung kommen, hängt davon ab, ob es sich um einen internationalen oder einen nicht-internationalen bewaffneten Konflikt handelt.
Einige Regeln des humanitären Völkerrechts schützen die Opfer bewaffneter Konflikte (z. B. Gefangene oder Vermisste) auch über das Ende des Konflikts hinaus.
Wer muss sich an das humanitäre Völkerrecht halten?
Das humanitäre Völkerrecht ist universell: Alle Parteien, die sich an den Feindseligkeiten in einem Konflikt beteiligen, sind verpflichtet, das HVR einzuhalten, unabhängig davon, ob es sich um Regierungskräfte oder um nicht-staatliche bewaffnete Gruppen handelt. Die Genfer Konventionen, die den Kern des HVR bilden, wurden von allen 196 Staaten der Welt ratifiziert. Somit ist das HVR eine universelle Rechtsordnung. Nur sehr wenige internationale Verträge geniessen eine so breite Unterstützung.
Die vier Konventionen werden ergänzt durch die zwei Zusatzprotokolle von 1977. Das erste Zusatzprotokoll regelt internationale bewaffnete Konflikte und das zweite nicht-internationale bewaffnete Konflikte. Hinzu kommt das dritte Zusatzprotokoll aus dem Jahr 2005, das das Emblem des Roten Kristalls neben dem Roten Kreuz und dem Roten Halbmond einführt.
174 Staaten haben bisher das erste Zusatzprotokoll ratifiziert, 169 das zweite Zusatzprotokoll und 79 das dritte Zusatzprotokoll. Neben den Verträgen kann das Völkergewohnheitsrecht Lücken füllen in Situationen, in denen die Verträge nicht zur Anwendung kommen oder in denen das Recht der Verträge weniger weit reicht, zum Beispiel in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten. Die Regeln des Gewohnheitsrechts sind für alle Parteien eines bewaffneten Konflikts verbindlich.
Zusammengefasst kann gesagt werden: Kriegsgefangene sind Kombattantinnen und Kombattanten, die in einem internationalen bewaffneten Konflikt dem Feind in die Hände gefallen sind. Kombattantinnen und Kombattanten können Angehörige der regulären Streitkräfte sein, aber auch Angehörige von Milizen, Freiwilligenkorps oder anderen Gruppen dieser Art, wenn sie zu einer Konfliktpartei gehören und bestimmte Voraussetzungen erfüllen.
Eine kleine Gruppe von Nichtkombattanten, darunter Sanitätspersonal, Journalistinnen und Journalisten, Auftragnehmer und zivile Crewmitglieder haben ebenfalls Anrecht auf einen Kriegsgefangenenstatus, wenn sie den Streitkräften angeschlossen sind oder eine Sondergenehmigung besitzen, um sie zu begleiten. Es besteht zudem die Möglichkeit, dass Zivilpersonen, die im Rahmen einer Massenerhebung (sog. Levée en Masse) aus eigenem Antrieb zu den Waffen greifen, als Kriegsgefangene eingestuft werden. Der Kriegsgefangenenstatus wird in der dritten Genfer Konvention und im ersten Zusatzprotokoll geregelt.
Auf welche Art der Behandlung haben Kriegsgefangene Anspruch?
Während der gesamten Dauer ihrer Gefangenschaft sind Kriegsgefangene unter allen Umständen mit Menschlichkeit zu behandeln. Sie sind vor jeglicher Gewalt sowie vor Einschüchterung, Beleidigungen und öffentlicher Neugierde zu schützen. Das humanitäre Völkerrecht legt ausserdem Mindestbedingungen für die Internierung von Kriegsgefangenen fest. Dabei geht es um Aspekte wie Unterkunft, Nahrung, Kleidung, Hygiene und medizinische Versorgung.
Kriegsgefangene dürfen nicht wegen ihrer direkten Teilnahme an den Feindseligkeiten strafrechtlich verfolgt werden. Für allfällige Kriegsverbrechen hingegen dürfen sie belangt werden. Ihre Gefangenschaft ist keine Bestrafung, sondern sie verfolgt ausschliesslich den Zweck, sie von einer weiteren Mitwirkung am Konflikt abzuhalten. Kriegsgefangene müssen nach Beendigung der aktiven Feindseligkeiten unverzüglich freigelassen und heimgeschafft werden.
In internationalen bewaffneten Konflikten ist das IKRK berechtigt, Kriegsgefangene zu besuchen, um sich zu vergewissern, dass ihre Behandlung und ihre Haftbedingungen im Einklang mit dem HVR stehen.
Wie steht es um Zivilpersonen, denen die Freiheit entzogen wurde? Sind sie durch das humanitäre Völkerrecht geschützt?
Während eines bewaffneten Konflikts kann auch Zivilpersonen die Freiheit entzogen werden. Das HVR erlaubt die Internierung geschützter Zivilpersonen nur dann, wenn dies für die Sicherheit der Partei, die sie gefangen hält, zwingend notwendig ist. Eine Internierung darf nie als Bestrafungsmassnahme eingesetzt werden. Das bedeutet, dass Gefangene freigelassen werden müssen, sobald die Gründe, die ihre Internierung notwendig machten, nicht mehr existieren.
Die Gefangenen müssen über den Grund ihrer Internierung informiert werden, und sie müssen die Internierungsentscheidung anfechten können. Das humanitäre Völkerrecht nennt ausserdem Mindestbedingungen für die Haft, unter anderem hinsichtlich Unterkunft, Nahrung, Kleidung, Hygiene und medizinischer Versorgung. Internierte Zivilpersonen müssen einen Kontakt zu ihren Familien halten können. Internierte Zivilpersonen sind unter allen Umständen mit Menschlichkeit zu behandeln.
Das HVR schützt sie vor jeglicher Gewalt sowie vor Einschüchterung, Beleidigungen und öffentlicher Neugierde. Sie haben ein Anrecht auf Achtung ihres Lebens, ihrer Würde, ihrer persönlichen Rechte und ihrer politischen, religiösen und anderweitigen Überzeugungen. In internationalen bewaffneten Konflikten ist das IKRK befugt, internierte Zivilpersonen zu besuchen, um sich zu vergewissern, dass ihre Behandlung und ihre Haftbedingungen im Einklang mit dem HVR stehen.
Welchen Schutz bietet das humanitäre Völkerrecht für Verwundete, Kranke und Schiffbrüchige?
Die Gruppe der Verwundeten und Kranken umfasst alle Personen – Zivilpersonen und Kombattanten bzw. Kombattantinnen – in einem bewaffneten Konflikt, die medizinische Versorgung benötigen und sich nicht an den Feindseligkeiten beteiligen. Alle Verwundeten, Kranken oder Schiffbrüchigen, unabhängig davon, zu welcher Seite sie gehören, müssen geachtet und geschützt werden.
Verwundete und Kranke müssen unter allen Umständen geachtet und geschützt werden. Das bedeutet, dass sie nicht angegriffen, getötet oder misshandelt werden dürfen, und dass die Parteien Schritte einleiten müssen, um ihnen zu helfen und sie zu schützen. Die Konfliktparteien müssen alle durchführbaren Massnahmen einleiten, um Verwundete und Kranke zu suchen und zu bergen. Zusammengefasst gilt zudem: Die Konfliktparteien müssen so schnell wie möglich die bestmögliche Versorgung leisten.
Nur medizinische Gründe gelten als Rechtfertigung für eine Bevorzugung in der Reihenfolge der Behandlung. Die Behandlung von Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen in internationalen bewaffneten Konflikten wird in der ersten, der zweiten und der vierten Genfer Konvention sowie im ersten Zusatzprotokoll und im Völkergewohnheitsrecht weitreichend festgelegt. Für nicht-internationale bewaffnete Konflikte ist sie im allen vier Genfer Konventionen gemeinsamen Artikel 3, im zweiten Zusatzprotokoll und im Völkergewohnheitsrecht geregelt.
Was müssen die Parteien eines bewaffneten Konflikts im Zusammenhang mit Vermissten unternehmen? Und was bei Verstorbenen?
Gemäss dem humanitären Völkerrecht müssen die Parteien eines bewaffneten Konflikts verhindern, dass Menschen verschwinden oder von ihren Angehörigen getrennt werden. Wenn trotzdem Personen vermisst werden, müssen die Konfliktparteien sich dafür einsetzen, ihr Schicksal und ihren Aufenthaltsort zu klären und mit den Familien zu kommunizieren. Um zu verhindern, dass Menschen verschwinden und von ihren Familien getrennt werden, ist eine gute Kommunikation entscheidend.
Das HVR verlangt beispielsweise von den Parteien in einem bewaffneten Konflikt, Gefangene zu registrieren und ihnen zu erlauben, mit ihren Familien zu korrespondieren. Ausserdem müssen die Parteien alle verfügbaren Informationen über Verstorbene erfassen und sicherstellen, dass der Umgang mit menschlichen Überresten würdevoll erfolgt. Während internationalen bewaffneten Konflikten müssen die Parteien zudem ihre nationalen Auskunftsbüros nutzen, um Informationen über alle geschützten Personen – Lebende und Tote –, die sich in ihrer Gewalt befinden, zu sammeln, und diese an den Zentralen Suchdienst zu übermitteln.
Die Parteien in einem bewaffneten Konflikt müssen alle durchführbaren Massnahmen umsetzen, um das Schicksal der Vermissten, Getrennten und Toten aufzuklären, die Familienangehörigen zu informieren und die Wiederherstellung der Kontakte unter den Familienmitgliedern zu erleichtern. Dazu gehören die Suche nach den Verstorbenen, ihre Bergung und Evakuierung sowie auf Antrag die Erleichterung der Überführung und Übergabe menschlicher Überreste an die Familien. Einige Pflichten des HVR im Hinblick auf Vermisste gelten auch über die Beendigung des Konflikt hinaus.
Was geschieht im Falle einer Besetzung? Welcher Schutz gilt?
Gemäss dem humanitären Völkerrecht stellt Besetzung eine Form des internationalen bewaffneten Konflikts dar. Von einer Besetzung spricht man, wenn das Hoheitsgebiet eines Staates in die Gewalt feindlicher Streitkräfte gerät. Die Besetzung erstreckt sich nur auf das Gebiet, auf dem diese Gewalt herstellt ist und ausgeübt werden kann.
Wenn ein Staat der Präsenz ausländischer Streitkräfte zustimmt, handelt es sich nicht um eine Besetzung. Zusätzlich zum allgemeinen Schutz, den die Zivilbevölkerung geniesst, haben Zivilpersonen in besetzten Gebieten ein Anrecht auf besonderen Schutz, um Missbrauch durch die Besatzungsmacht zu verhindern. Dieser Schutz wird in Abschnitt III der vierten Genfer Konvention und im Haager Abkommen von 1907 sowie im Völkergewohnheitsrecht geregelt.
Generell ist festzuhalten, dass das geltende Recht im Falle einer Besetzung ein Gleichgewicht zwischen den Sicherheitsbedürfnissen der Besatzungsmacht einerseits und den Interessen der verdrängten Macht und der lokalen Bevölkerung andererseits anstrebt. Zu den Pflichten der Besatzungsmacht gehören beispielsweise die Verwaltung öffentlicher Besitztümer, der Betrieb von Bildungseinrichtungen, die Sicherstellung der Existenz und des Betriebs medizinischer Dienste sowie die Gewährung von Hilfsaktionen und die Zulassung der Arbeit unparteiischer humanitärer Organisationen wie des IKRK.
Im Gegenzug geniesst die Besatzungsmacht auch gewisse Rechte: Sie darf etwa der lokalen Bevölkerung einschränkende Massnahmen auferlegen, wenn die Notwendigkeit dies erforderlich macht.
Was sagt das humanitäre Völkerrecht über Flüchtlinge und Binnenvertriebene?
Flüchtlinge sind Menschen, die infolge einer begründeten Angst vor Verfolgung in ihrem Ursprungsland eine Landesgrenze überquert haben. Menschen werden aus vielen verschiedenen Gründen zu Flüchtlingen – unter anderem infolge von bewaffneten Konflikten.
Das HVR schützt Flüchtlinge insbesondere dann, wenn sie sich in einem Gebiet befinden, in dem ein bewaffneter Konflikt im Gange ist. Zusätzlich zum generellen Schutz für die Zivilbevölkerung haben Flüchtlinge in internationalen bewaffneten Konflikten Anspruch auf einige spezifische Schutzmassnahmen.
Binnenvertriebene sind Menschen, die gezwungen wurden, ihr Zuhause zu verlassen, die jedoch keine Landesgrenze überschritten haben. Binnenvertriebene geniessen den gleichen Schutz wie die gesamte Zivilbevölkerung. Zusätzlich erfordern spezifische Regeln des HVR, dass bei einer Vertreibung alle praktisch möglichen Massnahmen umgesetzt werden, um den Vertriebenen eine zufriedenstellende Unterkunft, ausreichende Hygiene, Gesundheitsversorgung, Sicherheit und Nahrung zur Verfügung zu stellen und dafür zu sorgen, dass Familien nicht auseinandergerissen werden.
Eine Einhaltung der Regeln des HVR kann dazu beitragen, Vertreibungen zu verhindern, da beispielsweise das Aushungern der Zivilbevölkerung und die Zerstörung von für deren Überleben notwendigen Objekten verboten ist. Das HVR verbietet Zwangsvertreibungen, es sei denn, die Sicherheit der Zivilbevölkerung oder zwingende militärische Gründe machen eine solche unerlässlich.
Wie schützt das humanitäre Völkerrecht Frauen?
In bewaffneten Konflikten können Frauen Opfer, Kämpferinnen, unbeteiligte Zuschauerinnen oder einflussnehmende Akteurinnen sein. Sie geniessen je nach Status den allgemeinen Schutz, den die gesamte Zivilbevölkerung oder die Kombattantinnen und Kombattanten erhalten. Das HVR verbietet Diskriminierung auf Grundlage des biologischen oder sozialen Geschlechts. Frauen werden ausserdem gefährdet durch die ihnen auferlegten Einschränkungen, und sie sind unverhältnismässig stark von bestimmten Formen der Gewalt, inklusive sexueller Gewalt, betroffen.
Das HVR befasst sich mit diesen Risiken. Unter anderem verbietet es Vergewaltigung, Zwangsprostitution und jegliche Form der sexuellen Nötigung aller Menschen. Verstösse gegen diese Verbote können als Kriegsverbrechen eingestuft werden. Zusätzlich sieht das HVR eine Sonderbehandlung für weibliche Kriegsgefangene, internierte Zivilistinnen und Schwangere vor.
Ihre besonderen Bedürfnisse hinsichtlich Schutz, Gesundheit und Unterstützung müssen respektiert werden. So können etwa Frauen, Männer, Jungen und Mädchen unterschiedlichen Alters und verschiedener Herkunft unterschiedliche medizinische Versorgung benötigen und unterschiedlichen Risiken ausgesetzt sein, die einer Gleichbehandlung in der Versorgung entgegenstehen. Die Perspektiven von Frauen und Männern unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft müssen berücksichtigt werden.
Wie schützt das humanitäre Völkerrecht Kinder?
Kinder sind in bewaffneten Konflikten besonders gefährdet. Ihre Bedürfnisse hängen unter anderem von Faktoren wie Geschlecht, sozioökonomischem Status und Behinderung ab. Kinder geniessen im HVR einen allgemeinen Schutz als Teil der Zivilbevölkerung, stehen aber auch unter besonderem Schutz.
So müssen sie etwa einen altersgerechten Zugang zu Nahrung und Gesundheitsversorgung erhalten, und es müssen Massnahmen ergriffen werden, um ihren fortgesetzten Zugang zu Bildung zu erleichtern. Das humanitäre Völkerrecht verbietet ausserdem die Rekrutierung von Kindern für Streitkräfte oder bewaffnete Gruppen, und die Parteien dürfen ihnen nicht erlauben, sich an den Feindseligkeiten zu beteiligen.
Das Alter der rechtmässigen freiwilligen und obligatorischen Rekrutierung hängt von den Verträgen ab, die der jeweilige Staat ratifiziert hat. So sind die meisten Staaten Vertragspartei des Fakultativprotokolls betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten, welches ein Mindestalter von 18 Jahren für die obligatorische Rekrutierung und die unmittelbare Teilnahme an Feindseligkeiten festsetzt. Dieses Protokoll gibt unrechtmässig rekrutierten Kindern zudem Anrecht auf Unterstützung für ihre körperliche und psychische Genesung und ihre soziale Wiedereingliederung.
Einige Staaten unterstützen die sogenannten „Pariser Prinzipien" (Paris Commitments and Principles on Children Associated with Armed Forces and Armed Groups), die eine weitere Anleitung zur Behandlung und Wiedereingliederung von unrechtmässig rekrutierten Kindern enthalten.
Schützt das humanitäre Völkerrecht Menschen mit Behinderungen?
Ja. Natürlich geniessen Menschen mit Behinderungen den gesamten allgemeinen Schutz für Zivilpersonen gemäss dem HVR, wenn sie Zivilpersonen sind oder nicht an den Kampfhandlungen teilnehmen. Zusätzlich erkannten jedoch die Verfasser der Genfer Konventionen bereits 1949, dass Menschen mit Behinderungen in bewaffneten Konflikten besonders geschützt werden müssen.
Das HVR verlangt von den Parteien in bewaffneten Konflikten, dass sie Menschen mit Behinderung besonders achten und schützen. Dies gilt etwa bei den Vorschriften zur Internierung oder für Evakuierungen aus belagerten oder umkreisten Gebieten. Das heutige Verständnis des HVR und der Rechte von Menschen mit Behinderungen betont die besonderen Bedürfnisse dieser Personen und die Hindernisse, mit denen sie konfrontiert sein können, aber auch die besonderen Risiken, denen sie in Rahmen eines bewaffneten Konflikts ausgesetzt sind.
Diese besonderen Hindernisse und Risiken sollten auch bei der Auslegung der Regeln des HVR im Umgang mit Zivilpersonen berücksichtigt werden, etwa bei der Verpflichtung, durchführbare Vorsichtsmassnahmen zu ergreifen.
Enthält das humanitäre Völkerrecht Regeln zu Folter?
Ja. Folter und andere Formen der Misshandlung sind überall und unter allen Umständen uneingeschränkt verboten. Das HVR und die internationalen Menschenrechtsnormen ergänzen einander und bilden gemeinsam ein umfassendes Regelwerk für die Verhütung und Bestrafung von Folter und anderen Formen der Misshandlung.
Die Staaten haben sich darauf geeinigt, dass es keine Rechtfertigung für Folter gibt. Das durch solche Praktiken verursachte Leid kann tiefgreifende verstörende Auswirkungen auf die Opfer haben, die Jahre andauern können.
Wie lauten die wichtigsten Grundsätze für die Ausführung von Feindseligkeiten?
Das humanitäre Völkerrecht legt Regeln für die Ausführung von Feindseligkeiten fest, die zum Ziel haben, ein Gleichgewicht zwischen militärischer Notwendigkeit und Menschlichkeit zu erreichen. Dabei geht es in erster Linie darum, die Zivilbevölkerung vor Angriffen und vor den negativen Auswirkungen der Feindseligkeiten zu schützen.
Prinzip der Unterscheidung: Die Parteien in einem bewaffneten Konflikt müssen „jederzeit zwischen der Zivilbevölkerung und Kombattanten sowie zwischen zivilen Objekten und militärischen Zielen [unterscheiden]; sie dürfen daher ihre Kriegshandlungen nur gegen militärische Ziele richten".
Das HVR verbietet Angriffe, die gegen Zivilpersonen gerichtet sind, ebenso wie unterschiedslose Angriffe, insbesondere jene, die ohne Unterscheidung militärische Ziele und Zivilpersonen oder zivile Objekte treffen.
Prinzip der Verhältnismässigkeit: Das HVR verbietet Angriffe, die verglichen mit dem zu erwartenden unmittelbaren und konkreten militärischen Vorteil unverhältnismässigen Schaden für die Zivilbevölkerung anrichten könnten. Bei der Ausführung von Feindseligkeiten können unbeabsichtigte Schäden an der Zivilbevölkerung und an zivilen Objekten zwar oft nicht verhindert werden. Das HVR beschränkt jedoch das zulässige Ausmass an unbeabsichtigtem Schaden, indem es festlegt, wie das Gleichgewicht zwischen militärischer Notwendigkeit und Menschlichkeit in solchen Situationen aussehen muss.
Prinzip der Vorsichtsmassnahmen: Bei militärischen Operationen muss stets darauf geachtet werden, die Zivilbevölkerung und zivile Objekte zu schonen. Alle praktisch möglichen Vorsichtsmassnahmen müssen umgesetzt werden, um Tote und Verwundete in der Zivilbevölkerung und die Beschädigung ziviler Objekte zu vermeiden oder sie zumindest so gering wie möglich zu halten.
Angesichts des bedeutenden Risikos eines Schadens für die Zivilbevölkerung bei jedem Angriff durch die Streitkräfte auferlegt das HVR denjenigen, welche diese Angriffe planen, beschliessen oder durchführen, detaillierte Pflichten. Es fordert von den Konfliktparteien zudem, dass sie Zivilpersonen und zivile Objekte in ihrer Gewalt vor den Folgen von Angriffen schützen.
Besonderer Schutz: Verschiedene Arten von Personen und Objekten geniessen einen zusätzlichen besonderen Schutz. So muss etwa besonders darauf geachtet werden, dass eine Freisetzung gefährlicher Kräfte und die daraus folgenden schweren Verluste in der Zivilbevölkerung verhindert werden, wenn Staudämme, Deiche, Kernkraftwerke und andere Anlagen oder Einrichtungen in deren Nähe angegriffen werden.
Kommt das erste Zusatzprotokoll von 1977 zur Anwendung, so gelten noch strengere Regeln. Besonderer Schutz gilt auch für Sanitätspersonal und medizinische Einrichtungen, humanitäre Mitarbeitende und humanitäre Tätigkeiten, die natürliche Umwelt sowie für für die Zivilbevölkerung lebensnotwendige Objekte und Kulturgut.
Dürfen die Konfliktparteien jede Art von Waffen einsetzen, um anzugreifen oder sich zu verteidigen?
Nein, das dürfen sie nicht. Von Anfang an versuchte man, mit dem humanitären Völkerrecht die Folgen bewaffneter Konflikte zu begrenzen. Dazu auferlegt das HVR Einschränkungen bei der Auswahl der Waffen, Mittel und Methoden der Kriegsführung. Dies geschieht anhand allgemeiner Regeln und mittels spezifischer Vorschriften, welche den Einsatz bestimmter Waffen, die unzumutbaren Schaden anrichten, beschränken oder verbieten.
Zu den allgemeinen Regeln, welche die Wahl der Waffen, Mittel und Methoden der Kriegsführung einschränken, gehören das Verbot von Waffen, die von ihrer Art her unterschiedslos sind, die Grundsätze und Regeln im Zusammenhang mit der Ausführung von Feindseligkeiten, die hauptsächlich auf den Schutz der Zivilbevölkerung ausgerichtet sind, sowie das Verbot von Waffen, die so gestaltet sind, dass sie überflüssige Verletzungen oder unnötiges Leiden verursachen. Letzteres schützt auch Kombattantinnen und Kombattanten.
Seit den 1860er-Jahren haben sich die Staaten darauf geeinigt, bestimmte Waffen zu verbieten oder zu beschränken, weil sie hohe menschliche Kosten verursachen oder verursachen können. Zu nennen sind etwa das Verbot von Sprenggeschossen (1868), von Geschossen, die sich leicht im menschlichen Körper ausdehnen oder plattdrücken (1899), von erstickenden oder giftigen Gasen (1925), von biologischen Waffen (1972), von chemischen Waffen (1993), von Munition mit nichtentdeckbaren Splittern (1980), von blindmachenden Laserwaffen (1995), von Antipersonenminen (1997), von Streumunition (2008) und von Atomwaffen (2017), sowie Beschränkungen des Einsatzes von Brandwaffen (1980), Minen, Sprengfallen und anderen Vorrichtungen (1980 u. 1996), und schliesslich Pflichten rund um explosive Kampfmittelrückstände (2003).
Viele dieser Waffen sind heute auch gemäss Völkergewohnheitsrecht verboten. Alle Waffen, selbst diejenigen, die nicht spezifisch geregelt sind, müssen die allgemeinen Regeln des humanitären Völkerrechts im Zusammenhang mit der Ausführung von Feindseligkeiten einhalten.
Wenn Staaten eine neue Waffe entwickeln oder beschaffen, müssen sie eine rechtliche Überprüfung vornehmen, um zu bestimmen, ob ihr Einsatz durch das Völkerrecht stets oder unter bestimmten Umständen möglicherweise verboten ist. Schliesslich sollte auch berücksichtigt werden, ob der Einsatz von Waffen, Mittel oder Methoden der Kriegsführung mit den Grundsätzen der Menschlichkeit und den Forderungen des öffentlichen Gewissens im Einklang steht.
Weshalb ruft das IKRK alle Konfliktparteien auf, in städtischen Gebieten keine explosiven Waffen mit grossflächiger Wirkung einzusetzen?
Explosive Waffen mit grossflächiger Wirkung (z. B. grosse Bomben und Raketen, ungelenkte Artillerie und Granatwerfer sowie Mehrfachraketenwerfer) haben bei einem Einsatz in urbanen oder anderweitig besiedelten Gebieten schwerwiegende humanitäre Konsequenzen, selbst wenn sie auf militärische Ziele gerichtet sind.
Dazu gehören nicht nur ihre direkten Effekte (Tod und Verletzung von Zivilpersonen, Zerstörung ziviler Objekte), sondern auch die indirekten oder nachhallenden Effekte (z. B. die Störung wesentlicher Dienste durch den angerichteten Schaden an kritischer Infrastruktur oder durch deren Zerstörung). Aufgrund der sehr grossen Sprengkraft oder fehlenden Präzision dieser Waffen und der Wahrscheinlichkeit, dass die Wirkung deutlich über das eigentliche Ziel hinausgeht, ist es eine grosse Herausforderung, solche Waffen im Einklang mit dem HVR in besiedelten Gebieten einzusetzen.
Explosive Waffen mit grossflächiger Wirkung sind für den Einsatz in besiedelten Gebieten nicht geeignet. Seit 2011 ruft das IKRK die Staaten und alle Parteien in bewaffneten Konflikten auf, auf den Einsatz solch schwerer explosiver Waffen in Städten und anderen besiedelten Gebieten zu verzichten, weil die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass es zu unterschiedslosen Folgen kommt, auch wenn es kein ausdrückliches rechtliches Verbot für spezifische Waffentypen gibt.
Dieser Aufruf wurde von der gesamten Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung, vom UNO-Generalsekretär und von mehreren Staaten und internationalen sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen aufgegriffen.
Gefordert wird eine „Politik der Vermeidung", also dass explosive Waffen mit grossflächiger Wirkung in besiedelten Gebieten nicht verwendet werden, ausser wenn genügend Massnahmen zur Begrenzung der grossflächigen Wirkung dieser Waffen und der Gefahr des Schadens für die Zivilbevölkerung umgesetzt werden. Diese Massnahmen sollten als Anleitung und „gute Praxis" weit im Voraus vor militärischen Einsätzen erarbeitet und gewissenhaft umgesetzt werden, wenn es zu Kampfhandlungen in besiedelten Gebieten kommt.
Möchten Sie mehr erfahren? Unser Video und weitere Berichte zum Thema finden Sie hier.
Wie steht es um Waffenlieferungen an die Parteien eines bewaffneten Konflikts?
Die verbreitete Verfügbarkeit und die geringe Regulierung oder Kontrolle von Waffen- und Munitionslieferungen haben schwerwiegende Folgen für die Menschen. Sie erleichtern Verstösse gegen das HVR, behindern das Erbringen humanitärer Hilfe, tragen zur Verlängerung bewaffneter Konflikte bei und sorgen für die Aufrechterhaltung grosser Unsicherheit und Gewalt, auch dann, wenn die bewaffneten Konflikte bereits zu Ende sind.
Die Staaten sollten darauf verzichten, Waffen zu liefern, wenn ein eindeutiges Risiko besteht, dass diese für Verletzungen des HVR eingesetzt werden könnten. Staaten, welche einer Partei in einem bewaffneten Konflikt Waffen liefern, müssen alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um sicherzustellen, dass der Empfänger der Waffen das HVR einhält, zum Beispiel durch Massnahmen zur Risikoabschwächung, indem sie die Waffenlieferungen an bestimmte Bedingungen knüpfen, Lieferungen unterbrechen oder zukünftige Lieferungen stornieren.
Ausserdem müssen Staaten, welche den Vertrag über den Waffenhandel unterzeichnet haben, vor der Genehmigung eines Exports beurteilen, ob die Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Empfänger die gelieferten Waffen, Munitionen oder Teile und Komponenten dazu einsetzen wird, eine schwere Verletzung des HVR oder der internationalen Menschenrechtsnormen zu begehen oder zu erleichtern. Besteht ein überwiegendes Risiko, dass dies geschieht, so darf der Export nicht genehmigt werden.
Gemäss dem HVR wird ein Staat nicht zur Konfliktpartei in einem bewaffneten Konflikt, nur weil er einer kriegführenden Partei Waffen oder militärische Ausrüstung liefert.
Wenn Streitkräfte ein Spital oder eine Schule als Ausgangspunkt für Angriffe oder zur Lagerung von Waffen verwenden, werden diese Orte dadurch zu legitimen militärischen Zielen?
Das HVR verbietet direkte Angriffe auf zivile Objekte wie Schulen. Es verbietet auch direkte Angriffe gegen Spitäler und medizinisches Personal, sie sind im HVR besonders geschützt. Ein Spital oder eine Schule kann aber zu einem legitimen militärischen Ziel werden, wenn diese Einrichtungen zu spezifischen Militäroperationen des Feindes beitragen und wenn ihre Zerstörung einen deutlichen militärischen Vorteil für die Angreifer darstellt.
Besteht ein auch noch so kleiner Zweifel, so dürfen diese Orte nicht angegriffen werden. Spitäler verlieren ihren Schutz nur unter ganz bestimmten Umständen – etwa wenn ein Spital als Basis für die Durchführung eines Angriffs, als Waffenlager oder als Versteck für gesunde Soldatinnen und Soldaten oder Kämpfende genutzt wird. Und auch dann gibt es gewisse Bedingungen, die erfüllt sein müssen: Bevor eine Konfliktpartei in einem solchen Fall durch einen Angriff reagieren darf, muss sie eine Warnung aussprechen und eine Frist einräumen, und die Gegenpartei muss diese Warnung ignoriert haben.
Einige Staaten unterstützen die Erklärung und die Leitlinien für sichere Schulen (Safe Schools Declaration and Guidelines), die zum Ziel haben, die militärische Nutzung von Schulen zu reduzieren.
Weshalb sind Angriffe auf Kulturgut in bewaffneten Konflikten bedenklich?
Historische Denkmäler, Kunstwerke und archäologische Stätten – sogenanntes Kulturgut – sind völkerrechtlich geschützt. Angriffe gegen solche Güter bedeuten mehr als nur die Zerstörung von Stein, Holz oder Beton – sie sind im Grunde genommen Angriffe auf unsere Geschichte, unsere Würde und unsere Menschlichkeit.
Die Regeln der Kriegsführung verpflichten die Parteien in bewaffneten Konflikten dazu, Kulturgut zu schützen und zu achten. Gemäss dem HVR sind Angriffe auf Kulturgut und dessen Nutzung für militärische Zwecke verboten, ausser dies entspricht einer zwingenden militärischen Notwendigkeit. Die Konfliktparteien dürfen ausserdem Kulturgut weder beschlagnahmen noch zerstören oder willentlich beschädigen, und sie müssen Diebstahl, Plünderungen oder Vandalismus von Kulturgut unterbinden.
Schützt das HVR die Umwelt vor den Auswirkungen militärischer Operationen?
Ja. Die natürliche Umwelt ist grundsätzlich eine zivile Umgebung. Deshalb sind alle Teile der natürlichen Umwelt, die keine militärischen Ziele sind, durch die allgemeinen Prinzipien und Regeln über die Ausführung von Feindseligkeiten, die dem Schutz ziviler Objekte dienen, ebenfalls geschützt. Das bedeutet, dass es den Parteien verboten ist, einen Angriff gegen ein militärisches Ziel durchzuführen, der übermässigen Schaden an der Umwelt anrichten könnte.
Bei der Durchführung militärischer Operationen müssen alle durchführbaren Vorsichtsmassnahmen ergriffen werden, um Schäden an der Umwelt zu verhindern und in jedem Fall möglichst gering zu halten. Fehlt es an wissenschaftlicher Gewissheit im Hinblick auf die Folgen bestimmter militärischer Operationen auf die Umwelt, so bedeutet dies nicht, dass die Konfliktpartei keine entsprechenden Vorsichtsmassnahmen ergreifen muss. Ausserdem gewährt das HVR unter bestimmten Umständen der natürlichen Umwelt besonderen Schutz.
Dies gilt etwa im Hinblick auf den Schutz und die Erhaltung der natürlichen Umwelt bei der Auswahl der Mittel und Methoden der Kriegsführung und im Zusammenhang mit dem Verbot des Einsatzes von Mittel und Methoden der Kriegsführung, die dazu dienen, oder von denen man erwarten kann, dass sie ausgedehnte, lang anhaltende und schwere Schäden der natürlichen Umwelt verursachen.
Die Verletzung dieses Verbots kann als Kriegsverbrechen eingestuft werden. Die Zerstörung der natürlichen Umwelt darf nicht als Waffe eingesetzt werden.
Möchten Sie mehr erfahren? Lesen Sie die Leitlinien des IKRK über den Schutz der natürlichen Umwelt in bewaffneten Konflikten (auf Englisch).
Welche Regeln gelten bei Belagerungen?
Belagerungen haben oft schwerwiegende Folgen für eine grosse Anzahl von Zivilpersonen. Um die Zivilbevölkerung zu schützen, legt das HVR diesbezüglich wichtige Regeln fest. Zivilpersonen müssen insbesondere die Möglichkeit erhalten, belagerte Gebiete zu verlassen. Weder die Belagerungsmacht noch die belagerte Macht darf sie gegen ihren Willen zum Bleiben zwingen.
Belagerungen dürfen sich ausschliesslich gegen die Streitkräfte eines Feindes richten, und es ist absolut verboten, auf Zivilpersonen zu schiessen oder diese anzugreifen, wenn sie aus einem belagerten Gebiet fliehen. Zudem müssen die Parteien sämtliche Regeln für die Ausführung von Feindseligkeiten einhalten. Es muss stets darauf geachtet werden, dass die Zivilbevölkerung verschont wird, wenn eine Stadt belagert und militärische Ziele im belagerten Gebiet angegriffen werden.
Alle praktisch möglichen Vorsichtsmassnahmen müssen umgesetzt werden, um Tote und Verwundete in der Zivilbevölkerung und die Beschädigung ziviler Objekte zu vermeiden oder diese möglichst gering zu halten. Das HVR verbietet zudem das Aushungern der Zivilbevölkerung als Mittel der Kriegsführung. Gleichzeitig dürfen Belagerungen nicht dazu genutzt werden, die Zivilbevölkerung permanent aus einem Gebiet zu vertreiben, auch wenn eine vorübergehende Evakuierung möglicherweise erforderlich oder gar rechtlich notwendig ist.
Wenn Zivilpersonen vertrieben werden (weil sie fliehen oder aus einem belagerten Gebiet evakuiert werden), müssen alle durchführbaren Massnahmen umgesetzt werden, um sicherzustellen, dass diese Menschen eine angemessene Unterkunft, Zugang zu ausreichend Nahrung, Sanitäreinrichtungen und Gesundheitsversorgung erhalten, dass sie in Sicherheit sind (dazu gehört auch der Schutz vor sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt) und dass die Mitglieder einer Familie nicht voneinander getrennt werden.
Möchten Sie mehr erfahren? Lesen Sie unseren Bericht aus dem Jahr 2019 über das HVR und die Herausforderungen zeitgenössischer bewaffneter Konflikte, S. 23 bis 25 (auf Englisch).
Gelten auch für die Cyberkriegsführung Regeln?
Ja. Cyberoperationen während bewaffneten Konflikten unterliegen den bewährten Prinzipien und Regeln des HVR – sie erfolgen nicht in einem „rechtlichen Vakuum" oder einer „Grauzone". Das IKRK hegt stets die Befürchtung, das militärische Cybereinsätze, die heutzutage Teil von bewaffneten Konflikten geworden sind, den Betrieb von kritischer Infrastruktur, Notfalleinsätze oder humanitäre Hilfe und andere lebenswichtige Dienste für die Zivilbevölkerung stören können.
Das humanitäre Völkerrecht beschränkt Cyberoperationen während bewaffneten Konflikten in gleicher Weise, wie es den Einsatz aller anderen Waffen, Mittel und Methoden der Kriegsführung in einem bewaffneten Konflikt einschränkt, unabhängig davon, ob es sich um alte oder neue Mittel handelt. Insbesondere schützen die bestehenden Grundsätze und Regeln des HVR – darunter die Prinzipien der Unterscheidung, der Verhältnismässigkeit und der Vorsicht bei Angriffen – die zivile Infrastruktur vor Cyberangriffen. Zudem ist die Verwendung von Cyber-Tools, die sich unterschiedslos verbreiten und Schaden anrichten, in bewaffneten Konflikten verboten.
Umfasst das humanitäre Völkerrecht Einschränkungen für Operationen im Informationsbereich oder psychologische Operationen?
Operationen im Informationsbereich und psychologische Operationen sind seit Langem Teil von bewaffneten Konflikten. Durch das rasche Wachstum der Informations- und Kommunikationstechnologie in jüngster Zeit haben sich jedoch das Ausmass, die Geschwindigkeit und die Reichweite von Informationsinitiativen und psychologischen Operationen bedeutend erhöht.
Das IKRK ist besorgt über die Durchführung von Operationen im Informationsbereich und von psychologischen Operationen mit dem Ziel, Verwirrung zu schaffen oder Schaden anzurichten, Angst und Schrecken in der Bevölkerung zu verbreiten oder zu Gewalt anzustiften.
Das humanitäre Völkerrecht verbietet bestimmte Arten von Operationen im Informationsbereich und von psychologischen Operationen in bewaffneten Konflikten. Dazu gehören die Androhung von Gewalt, wenn diese hauptsächlich dazu dient, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, der Einsatz von Propaganda zur Erreichung der freiwilligen Anwerbung von geschützten Personen in besetzten Gebieten sowie allgemein die Anstiftung zu Verletzungen des HVR. Operationen im Informationsbereich müssen zudem die Vorgabe einhalten, spezifische Kategorien von Akteuren wie etwa medizinisches Personal und humanitäre Helferinnen und Helfer zu achten und zu schützen.
Worin liegen die Gefahren autonomer Waffensysteme?
Autonome Waffen wählen Ziele aus und fügen ihnen Gewalt zu, ohne dass ein Mensch eingreift. Das bedeutet, dass der Nutzer nicht gezielt auswählt, wer oder was angegriffen wird. Die Schwierigkeiten bei der Vorhersage und der Beschränkung der Auswirkungen solcher Waffen bergen Risiken für Zivilpersonen, Herausforderungen für die Einhaltung des HVR und grundlegende ethische Bedenken für die Gesellschaft.
Das IKRK hat die Staaten dringend dazu aufgerufen, neue, rechtlich bindende Regeln zu verabschieden, welche unvorhersehbare autonome Waffen sowie solche, die Menschen angreifen, verbieten, und die Entwicklung und den Einsatz aller anderen autonomen Waffen streng zu beschränken.
[VIDEO EXPLAINER] Möchten Sie mehr erfahren? Dieses Video erklärt die Haltung des IKRK zu autonomen Waffen.
Ist der humanitäre Zugang zu notleidenden Zivilbevölkerungen bedingungslos?
Obwohl sich die einschlägigen Regeln je nach Art des Konflikts (internationale bewaffnete Konflikte ohne Besetzung, Besetzung, nicht-internationale bewaffnete Konflikte) geringfügig unterscheiden, kann man einfach gesagt festhalten, dass der Rahmen des HVR, der den humanitären Zugang regelt, aus vier miteinander verbundenen „Ebenen" besteht.
Erstens muss jede Partei in einem bewaffneten Konflikt die Grundbedürfnisse der Bevölkerung, die sich in ihrer Gewalt befindet, decken.
Zweitens haben unparteiische humanitäre Organisationen das Recht, ihre Dienste anzubieten, um humanitäre Einsätze durchzuführen, vor allem, wenn die Grundbedürfnisse der Bevölkerung nicht gedeckt sind.
Drittens sind unparteiische humanitäre Einsätze in bewaffneten Konflikten meist an das Einverständnis der betroffenen Konfliktparteien geknüpft. Dieses Einverständnis kann jedoch nicht willkürlich verweigert werden.
Viertens wird von den Konfliktparteien und allen Staaten, die nicht am Konflikt teilnehmen, erwartet, dass sie den schnellen und ungehinderten Durchlass von Hilfssendungen erlauben und erleichtern, nachdem man sich auf unparteiische humanitäre Hilfe geeinigt hat. Die Parteien sind berechtigt, zu kontrollieren, ob die Güter tatsächlich dem angekündigten Inhalt entsprechen.
Möchten Sie mehr erfahren? Lesen Sie das Dokument „Fragen und Antworten des IKRK und Lexikon über den humanitären Zugang" (auf Englisch).
Wie steht das IKRK zu humanitären Korridoren und humanitären Pausen?
„Humanitäre Korridore" sind Durchfahrtsrouten, die beispielsweise von humanitären Mitarbeitenden genutzt werden, um den Opfern von Feindseligkeiten Hilfe zu bringen oder sie auf sicherem Weg zu evakuieren. Das humanitäre Völkerrecht sagt zwar nichts Ausdrückliches zum Konzept des „humanitären Korridors", aber die Regeln über den humanitären Zugang und die weiter oben erwähnten humanitären Einsätze bieten einen Referenzrahmen dafür.
Ausserdem sind die Parteien verpflichtet, die Zivilbevölkerung aus den umkämpften Zonen wegzubringen, Kranke und Verwundete heimzuschaffen, Tote zu überführen und den Zivilpersonen zu erlauben, das Gebiet zu verlassen, wenn ihr Schutz oder zwingende militärische Gründe nichts anderes erfordern.
Jede Initiative, die der Zivilbevölkerung etwas Ruhe vor der Gewalt schenkt und den Menschen erlaubt, sich freiwillig in sicherere Regionen zu begeben, ist willkommen. Humanitäre Korridore müssen sorgfältig geplant, gut koordiniert und mit dem Einverständnis der Parteien auf allen Seiten umgesetzt werden.
Per definitionem sind humanitäre Korridore jedoch geografisch beschränkt und bieten daher keine ideale Lösung. Diejenigen, die an den Kämpfen beteiligt sind, müssen sicherstellen, dass alle notwendigen Massnahmen und Vorsichtsmassnahmen getroffen werden, um die Zivilbevölkerung zu schützen, und dass die Hilfe für die Notleidenden durchgelassen wird und die Menschen erreichen kann.
Eine „humanitäre Pause" ist eine zwischen den Konfliktparteien vereinbarte vorübergehende Einstellung der Feindseligkeiten zu rein humanitären Zwecken. Sie bezieht sich meist auf einen spezifischen Zeitraum und ein genau festgelegtes Gebiet. „Humanitäre Pause" und „humanitärer Korridor" sind keine Fachbegriffe aus dem humanitären Völkerrecht. Dennoch gibt es wichtige Regeln im HVR, welche als Rahmen für die Diskussion rund um humanitäre Pausen und Korridore dienen können.
Die Parteien in allen bewaffneten Konflikten können Abmachungen eingehen, um die Situation für die vom Konflikt betroffenen Menschen zu verbessern. Sie müssen sich von den Regeln für den humanitären Zugang leiten lassen.
Was sagt das humanitäre Völkerrecht zum Thema Ernährungssicherheit?
In Konflikten ist akute Ernährungsunsicherheit ein häufiges Problem. Das humanitäre Völkerrecht umfasst wesentliche Vorgaben, deren Einhaltung verhindern kann, dass eine Situation in eine extreme Ernährungskrise ausartet. So haben beispielsweise die Konfliktparteien die Pflicht, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung, die sich in ihrer Gewalt befindet, zu decken.
Ausserdem verbietet das HVR konkret das Aushungern der Zivilbevölkerung als Mittel der Kriegsführung – ein Verstoss gegen das Verbot kann als Kriegsverbrechen eingestuft werden. Objekte, die lebensnotwendig für die Zivilbevölkerung sind, beispielsweise Nahrungsmittel, landwirtschaftliche Gebiete, Ernte- und Viehbestände, Trinkwasserversorgungsanlagen und -vorräte sowie Bewässerungsanlagen sind besonders geschützt. Sie dürfen nicht angegriffen, zerstört, entfernt oder anderweitig unbrauchbar gemacht werden.
In ähnlicher Weise kann die Einhaltung anderer Regeln des HVR eine wesentliche Rolle spielen, um Ernährungsunsicherheit zu verhindern. Dazu gehören etwa der Schutz der Umwelt, die Einschränkung von Belagerungen und der Zugang zu humanitärer Hilfe.
Was geschieht, wenn ein Staat oder Einzelpersonen gegen das humanitäre Völkerrecht verstossen?
Die Einhaltung der Regeln ist ein entscheidender Aspekt, um die negativen Folgen bewaffneter Konflikte in Grenzen zu halten. Das HVR verlangt von den Konfliktparteien, schwere Verletzungen des HVR zu verhindern und zu bestrafen sowie andere Verletzungen zu unterbinden.
Ein Staat, der für Verletzungen des HVR verantwortlich ist, muss eine vollständige Wiedergutmachung für die von ihm verursachten Verluste oder Verletzungen leisten. Nach Einzelpersonen, die für Kriegsverbrechen verantwortlich sind, muss gefahndet werden, es müssen Ermittlungen und eine Strafverfolgung gegen sie eingeleitet werden. Die Staaten können diese Regeln über ihre nationalen Rechtssysteme, über diplomatische Kanäle oder über internationale Streitbeilegungsmechanismen durchsetzen.
Im Falle von Kriegsverbrechen kann jeder Staat ermitteln und eine Strafverfolgung einleiten. Unter gewissen Umständen kann dies auch durch einen internationalen Gerichtshof erfolgen. Die Vereinten Nationen können ebenfalls Massnahmen einleiten, um das humanitäre Völkerrecht durchzusetzen. So kann beispielsweise der UNO-Sicherheitsrat Staaten dazu zwingen, ihren Pflichten nachzukommen oder ein Gericht einrichten, um Verstösse zu untersuchen.
Was ist ein Kriegsverbrechen?
Bei schweren Verletzungen des humanitären Völkerrechts spricht man von Kriegsverbrechen. Die Staaten müssen Kriegsverbrechen, die von ihren Staatsangehörigen, ihren Streitkräften oder auf ihrem Hoheitsgebiet begangen wurden, untersuchen und wenn möglich die Verdächtigen strafrechtlich verfolgen. Die Staaten haben überdies das Recht, gegen andere Personen wegen Kriegsverbrechen zu ermitteln und sie vor ihre nationalen Gerichte zu bringen, unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Täters oder der Täterin und von dem Ort, an dem die Verletzungen begangen wurden (universelle Gerichtsbarkeit).
Das humanitäre Völkerrecht zieht Einzelpersonen für Kriegsverbrechen zur Verantwortung, die sie selbst begangen oder die sie angeordnet haben. In dieser Hinsicht wird das HVR ergänzt durch das Völkerstrafrecht, das verschiedene Arten der strafrechtlichen Verantwortung des Einzelnen festlegt. Einige Kriegsverbrechen beziehen sich auf alle bewaffneten Konflikte, andere gezielt auf internationale bewaffnete Konflikte.
In internationalen bewaffneten Konflikten spricht man im Zusammenhang mit gewissen Kriegsverbrechen auch von schweren Verletzungen, die für die Staaten zusätzliche Pflichten nach sich ziehen. Die folgenden Handlungen gelten beispielsweise in allen bewaffneten Konflikten als Kriegsverbrechen: gezielte Angriffe auf Zivilpersonen, die sich nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten beteiligen, Plünderungen, Geiselnahmen, Angriffe auf religiöse oder kulturelle Objekte, wenn diese keine militärischen Ziele darstellen, Folter und andere Formen unmenschlicher Behandlung, Rekrutierung von Kindersoldaten, Vergewaltigung und andere Formen der sexuellen Gewalt.
Das IKRK ist in keinerlei Weise am Sammeln von Beweisen für die Strafverfolgung von Kriegsverbrechen oder an der Strafverfolgung selbst beteiligt und kann von Gerichten nicht dazu gezwungen werden, bei Gerichtsverfahren auszusagen.