Humanitäres Völkerrecht und Richtlinien über

Geschützte Personen: Vermisste Personen

Während eines Krieges verschwinden unzählige Personen. Dies löst bei ihren Familien und ihrem Freundeskreis grosse Angst und Ungewissheit aus. Alle Menschen haben das Recht, zu erfahren, was mit ihren vermissten Angehörigen oder Freunden geschehen ist. Regierungen, Streitkräfte und bewaffneten Gruppen sind verpflichtet, Auskunft über das Schicksal der Vermissten zu geben und bei der Familienzusammenführung zu helfen.

Child holds picture of missing family member.

Vermisste Personen und das humanitäre Völkerrecht

In bewaffneten Konflikten verschwinden sowohl Zivilpersonen als auch Kombattantinnen und Kombattanten. Es kann vorkommen, dass niemand weiss, was mit Soldatinnen und Soldaten auf dem Schlachtfeld oder in Gefangenschaft geschehen ist. Familien werden durch Konflikte auseinandergerissen und leiden, weil sie Angst um ihre Angehörigen haben und nicht wissen, was passiert ist. Angesichts der Ungewissheit sind die Familien der Vermissten auch nicht in der Lage, um sie zu trauern. 

Das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechtsinstrumente verlangen von den kriegführenden Parteien in einem bewaffneten Konflikt, dass sie Massnahmen treffen, um sicherzustellen, dass keine Menschen verschwinden. Wenn es dennoch zu Vermissten kommt, müssen die Parteien alle in ihrer Macht stehenden Massnahmen einleiten, um den Verbleib der Vermissten aufzuklären und ihre Familien zu informieren. 

Während eines Konflikts können verschiedene Massnahmen getroffen werden, um zu verhindern, dass Menschen verschwinden. Wenn zum Beispiel alle Kombattantinnen und Kombattanten vollständige Identitätspapiere bei sich tragen, kann ihr Verbleib erfasst werden. Über die Verstorbenen sollte Buch geführt werden, und Informationen über Beerdigungen oder die Handhabung sterblicher Überreste sollten aufbewahrt werden. Auch über verhaftete und inhaftierte Personen müssen Informationen erfasst werden. 

Leider wurden in den jüngeren Konflikten keine ausreichenden Massnahmen getroffen, um das Verschwinden von Personen zu verhindern und entscheidende Informationen zu erfassen. In den Jugoslawienkriegen kam es zu Massenhinrichtungen und anonymen Grabstätten – rund 20 000 Personen verschwanden spurlos. In Sri Lanka wurden junge Männer einfach verhaftet und abtransportiert. In Afrika wurden Zehntausende Familien auf der Flucht vor Konflikten zerstreut. Dabei sind es häufig die Kinder, die am meisten Leid ertragen müssen. Kein Kontinent ist von diesem Problem verschont geblieben; es betrifft Hunderttausende Menschen auf der ganzen Welt. 

Der Schmerz, den solche Ereignisse auslösen, ist individuell und bleibt häufig verborgen. Es kann aber auch sein, dass ganze Gemeinschaften leiden, wenn die Hauptverdienenden verschwinden und die zurückbleibenden Familien sich selbst überlassen sind. 

Bis vor Kurzem erhielt diese verborgene Tragödie nicht genügend Aufmerksamkeit von Seiten der Völkergemeinschaft. Deshalb organisierte das IKRK im Jahr 2003 eine internationale Konferenz, um das Problem der Vermissten anzugehen und nach Wegen zu suchen, wie den betroffenen Familien und Gemeinschaften geholfen werden könnte. Regierungsvertreterinnen und -vertreter, Hilfswerke und Menschenrechtsorganisationen, Mitglieder der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung, andere Fachleute und – ganz wichtig – Vereinigungen der Familien von Vermissten nahmen an der Konferenz teil. 

Die Teilnehmenden bekräftigten das Recht, über das Schicksal der Vermissten aufgeklärt zu werden – ein Recht, das bereits im humanitären Völkerrecht und in den Menschenrechtsinstrumenten verankert ist. Es wurden konkrete Massnahmen ermittelt, welche die Konfliktparteien treffen sollten, um zu verhindern, dass Menschen verschwinden. Dazu gehört, dass Zivilpersonen geschont und geschützt werden, und dass Informationen über die Menschen korrekt erfasst werden. 

Die Konferenz anerkannte auch die entscheidende Rolle der Forensik und der würdevollen Handhabung sterblicher Überreste. Sie bekräftigte die entscheidende Funktion von Netzwerken, welche den Kontakt unter Angehörigen wiederherstellen, und an denen das IKRK, die breitere Bewegung und viele Angehörigenvereinigungen beteiligt sind. 

Seither hat das IKRK seine Arbeit in diesem Bereich fortgesetzt. Es beteiligte sich am Redaktionsausschuss für das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen, das im Dezember 2006 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde. Der damalige Präsident des IKRK begrüsste den Präventionsrahmen, den das Übereinkommen schuf, in einer öffentlichen Erklärung und zeigte sich auch zufrieden damit, dass es die Bedeutung von Gerechtigkeit anerkennt.