Erklärung

„Es ist an der Zeit, das Kriegsvölkerrecht zur politischen Priorität zu machen“

Zu einem Zeitpunkt in der Geschichte, in dem das Schlimmste allzu leicht vorstellbar geworden ist, ruft IKRK-Präsidentin Mirjana Spoljaric alle Staaten auf, ihre gemeinsame Rechtspflicht zu erfüllen, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten und seine Einhaltung zu gewährleisten.

Ansprache von IKRK-Präsidentin Mirjana Spoljaric am Graduate Institute – Genf, 28. November 2022

Es gilt das gesprochene Wort

Das Schlachtfeld war mit Leichen bedeckt, überall auf den Strassen und in den Gräben lagen Tote umher. Die Felder waren verwüstet, Frucht und Mais niedergetreten, die Gartenzäune niedergerissen ... Die Ortschaften zeigten überall Spuren der Kugeln und Raketen, der Bomben und Granaten. Die Häuser waren durchschossen, ihre Mauern zeigten weite Risse. Die Bewohner begannen nach und nach die Keller zu verlassen, in welchen sie sich, ohne Licht und Lebensmittel mitzunehmen, nahezu 20 Stunden lang versteckt hatten. Ihr verstörtes Aussehen zeugte von dem Schrecken, den sie ausgestanden hatten.

Eine Erinnerung an Solferino, von Henry Dunant (leicht überarbeitetes Zitat)

Sehr verehrte Damen und Herren,

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Ich freue mich sehr, heute Abend zu Ihnen zu sprechen. Dies ist meine erste öffentliche Ansprache, seit ich mein Amt als Präsidentin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz angetreten habe.

Eine meiner Hauptaufgaben als Präsidentin ist es, als Fürsprecherin für die von Konflikten betroffenen Menschen gegenüber jenen aufzutreten, die die Macht haben, die Lage der Betroffenen zu erleichtern.

In diesen ersten Wochen habe ich mich intensiv der Tätigkeit unserer grössten Einsätze gewidmet. Ich reiste in den Norden von Mali, nach Washington, New York und Paris. Ich war auch in Dublin, um bei der wichtigen Erklärung zur Begrenzung des Einsatzes von Explosionswaffen in besiedelten Gebieten dabei zu sein.

In dieser kurzen Zeit sind mir zwei Dinge aufgefallen:

Erstens: Welches Ausmass menschlichen Leidens, das durch Konflikte und Gewalt verursacht wird, ist zumutbar?

Im Norden von Mali leiden die Menschen extrem unter der Gewalt, deren Auswirkungen noch verschlimmert werden durch die Folgen der Klimakrise. Ich sah dort Kinder, die weder Nahrung noch Kleidung noch die geringste Hoffnung hatten, jemals eine Schule von innen zu sehen.

Im zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine sind wir Zeugen unerträglicher Zerstörungen, die sinnloses Leiden der Zivilbevölkerung zur Folge haben.

Und nicht nur dort: Von Äthiopien bis zum Jemen, von Afghanistan bis hin zu Israel und dem besetzten Gebiet, von Syrien bis Somalia werden die Auswirkungen bewaffneter Gewalt noch verschlimmert durch die Folgen des wirtschaftlichen Niedergangs, der Hunger und äusserste Verzweiflung mit sich bringt.

Zweitens liegt es auf der Hand, warum das humanitäre Völkerrecht und die Rolle des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz überhaupt existieren.

Konflikt ist blutig und zerstört Leben. Konflikt ist entmenschlichend. Gewaltsam zerstört er den Anderen.

In der Logik des Überlebens gibt es wenig Raum für Menschlichkeit. Doch genau für solche höchst problematischen Situationen wurde die neutrale und unparteiische humanitäre Hilfe geschaffen.

Das humanitäre Völkerrecht enthält Mindeststandards der Menschlichkeit, die in bewaffneten Konflikten einzuhalten sind. Seine Regeln müssen von allen Parteien befolgt werden, unabhängig von ihren Beweggründen, Krieg zu führen.

 
Ich freue mich, gerade zum jetzigen Zeitpunkt zu Ihnen sprechen zu können, denn die Welt befindet sich an einem Wendepunkt.

Die Beziehungen zwischen mächtigen Staaten sind angespannt, während das multilaterale System in einer von Spaltung geprägten Atmosphäre darum kämpft, seinen Wert und seine Legitimation zu bewahren.

Staaten und Medien sprechen von grossen zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikten, als seien sie unausweichlich.

Atomwaffen sind nach wie vor eine Bedrohung für uns alle. Und parallel zu wissenschaftlichen Fortschritten werden neue Techniken entwickelt, die Tod und Zerstörung bringen.

Es gibt gute Gründe für die Befürchtung, nach einem langen Zeitraum überwiegend nicht-internationaler bewaffneter Konflikte könne es zu einem Wiederaufleben von Konflikten zwischen Staaten kommen. Die Trends der letzten zwei Jahrzehnte lassen keine Abschwächung erkennen.

Viele nicht-internationale bewaffnete Konflikte ziehen sich hin, einige verschärfen sich noch.

Bewaffnete Gruppen entziehen sich weiterhin der Verantwortung, und Staaten, die über staatliche und nichtstaatliche Stellvertreter agieren, tun das Gleiche.

Die Technik entwickelt sich rasant: Cyberangriffe, autonome Waffen und die Nutzung des Weltraums werfen Fragen hinsichtlich der Anwendung und der Auslegung des humanitären Völkerrechts auf.

All dies verschlimmert sich noch durch die Wechselwirkungen des weltweiten finanziellen Drucks, der wachsenden Ungleichheit und der Klimakrise.

Und gleichzeitig ist die Achtung des humanitären Völkerrechts bestenfalls lückenhaft.

Das bedeutet auch, dass Kriegsparteien allzu oft versuchen, ganze Gruppen von Menschen vom humanitären Schutz des Rechts auszuschließen. Und dass Kriegsverbrechen Tag für Tag ungestraft begangen werden.

Nun, da ich mein Amt als Präsidentin des IKRK angetreten habe, bin ich durchaus realistisch und dennoch voller Hoffnung.

Ja, es gibt akute und gravierende Probleme, die angepackt werden müssen.

Wir besitzen jedoch etwas sehr wertvolles: einen internationalen Konsens.

Die Genfer Abkommen sind von allen Staaten unterzeichnet worden.

Jeder Staat hat sich aus freien Stücken rechtsverbindlich verpflichtet, die in diesen Abkommen aufgestellten Regeln einzuhalten.

Jeder Staat hat beschlossen, dass ungeachtet der Umstände, die zu einem Krieg führen, die Begrenzung der menschlichen Kosten eine Rechtspflicht ist, die nicht ignoriert werden darf.

In einer Zeit, in der der Multilateralismus durch Spaltungen geschwächt wird, dürfen wir nicht unterschätzen, wie stark die weltweite Zustimmung zu den Grundregeln für bewaffnete Konflikte ist.

Wir dürfen nicht zulassen, dass die ungewisse Zukunft des Friedens uns zweifeln lässt an der weltweit überwältigenden Gewissheit, dass Krieg Einschränkungen unterliegt.

Ganz im Gegenteil: Es ist an der Zeit, das Kriegsvölkerrecht zur politischen Priorität zu machen, um diesen einzigartigen Konsens zu nutzen und das humanitäre Völkerrecht in die Lage zu versetzen, seine Aufgaben zu einem Zeitpunkt in der Geschichte zu erfüllen, in dem das Schlimmste allzu leicht vorstellbar geworden ist.

Heute sehe ich drei Möglichkeiten, dies zu bewerkstelligen.

Erstens: Wir müssen unsere hart erkämpften Errungenschaften bewahren.

Allzu oft gelingt es Regierungen, durch ihre Stellungnahmen, ihre Politik oder ihre Positionen in multilateralen Verhandlungen die Auslegung des Rechts zu schwächen.

Wir wissen, dass der eine oder andere Staat immer ein Interesse daran haben wird, eine weitere Ausnahme von der Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts zu schaffen, um ein bestimmtes politisches Ziel zu erreichen.

Das Narrativ der Terrorismusbekämpfung wurde in den letzten Jahrzehnten immer wieder bemüht, um zu zeigen, dass die jeweilige Situation so einzigartig ist, dass das humanitäre Völkerrecht sie einfach nicht erfassen kann - oder, schlimmer noch, dass manche Menschen so schlecht sind, dass sie seinen Schutz nicht verdienen.

Dies ist offen gesagt einer der Gründe dafür, dass es im Nordosten Syriens Lager gibt, in denen Zehntausende von Kindern aus Dutzenden von Ländern unter unmenschlichen Bedingungen und vor den Augen der Weltöffentlichkeit festgehalten werden.

Wir sind uns auch bewusst, dass manche Regierungen und nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen die Rechtmässigkeit des humanitären Völkerrechts in Frage stellen: Sie sind der Ansicht, es verdanke sich ausländischer Willkür und wollen damit seine Autorität untergraben.

Aber ist der Grundsatz der Menschlichkeit nicht universell?

Menschlichkeit ist ein uraltes Gut. Irgendwann kann sich das Blatt wenden - kein Staat ist davor gefeit, eines Tages seine eigenen Kämpfer, Zivilbevölkerung oder Städte in der Hand des Gegners zu sehen.

Wenn die eigenen Leute in Gefahr sind, kann es nicht im Interesse der Staaten liegen, dass lebensrettende Regeln ausser Kraft sind, weil unüberlegte Ausnahmen durchgesetzt wurden.

Die Auswirkungen von Konflikten machen nicht an Landesgrenzen halt. Millionen Menschen in aller Welt mussten in sicherere Länder fliehen, um ihr Leben zu retten. Seit einigen Monaten sind wir überdies Zeugen einer drohenden Ernährungskrise in Afrika und einer Strom- und Gasknappheit in Europa.

Zudem sind uns die furchtbaren Auswirkungen eines jeglichen Einsatzes von Atomwaffen bewusst, der weitreichende und irreversible Zerstörung zur Folge hätte.

Mit anderen Worten: Wir alle haben etwas zu verlieren. Das humanitäre Völkerrecht schützt jeden Menschen, es schützt uns alle.

Was bedeutet die Wahrung unserer Errungenschaften nun konkret? Sie bedeutet, dass wir unsere Stimme erheben müssen, um die Universalität und die Relevanz des humanitären Völkerrechts wann immer möglich zu betonen – in multilateralen Foren, in Gesprächen mit politisch Verantwortlichen, in Forschung und Lehre.

Sie bedeutet, dass wir nicht zulassen dürfen, dass die Sprache des Rechts – das weltweit anerkannt und in Verträgen verankert ist – durch tagespolitische Erwägungen ausgehöhlt wird.

Und sie bedeutet, an die Regeln zu erinnern in der festen Überzeugung, dass das humanitäre Völkerrecht seinen Zweck erfüllt, ganz gleich, wie sehr sich der nächste Konflikt von den vorangegangenen unterscheidet, und dass die Fragen nach seiner Relevanz zu den Akten zu legen sind.

Zweitens: Vorsorge ist entscheidend, doch ich möchte auch mehr über Prävention sprechen. Für das IKRK bedeutet Prävention, dass alle Instrumente bereitstehen, um im Fall eines bewaffneten Konflikts die Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu gewährleisten.

Prävention bedeutet, dass Staaten Gesetze zur Umsetzung des humanitären Völkerrechts verabschieden, ihre Streitkräfte im Umgang mit den Regeln des Krieges schulen, Befehle erteilen, die diese Regeln einhalten, und die Rechenschaftspflicht fördern.

Prävention bedeutet, dass Staaten planen müssen, Gefangene menschenwürdig unterzubringen, ihnen ein ordentliches Verfahren zu ermöglichen und das Verschwinden von Personen zu verhüten; sie bedeutet, dass Staaten Zielübungen einführen müssen, die zivile Opfer vermeiden und Wohnhäuser, Schulen, Spitäler und Kulturgüter schützen; und sie bedeutet, dass Staaten Militäreinsätze so planen müssen, dass lebenswichtige Dienste wie Gesundheitsversorgung und Trinkwasserversorgung verschont werden.

Bei der Prävention geht es auch um den politischen Willen, das Verhalten der eigenen Streitkräfte zu untersuchen und die Fakten im Zusammenhang mit mutmasslichen Verstössen gegen das humanitäre Völkerrecht gründlich zu prüfen. Effektive Ermittlungen dienen nicht nur der Abschreckung und der Bestrafung von Verstössen, sondern tragen dazu bei, systemische Mängel aufzudecken und den Streitkräften die Möglichkeit zu geben, ihr Verhalten zu ändern.

Das IKRK arbeitet eng mit Staaten zusammen, indem es sie bei der Ausarbeitung von Gesetzen unterstützt, sie ermutigt, neue Verträge zu unterzeichnen, oder ihre Soldaten, Richter, Abgeordneten und Diplomaten mit dem Kriegsvölkerrecht vertraut macht.

Was immer Staaten unternehmen, um sich auf künftige Konflikte vorzubereiten – die Verhinderung von Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht muss integraler Bestandteil dieser Vorbereitungen sein.

Drittens: Wir müssen uns mit dem Problem der Nichteinhaltung auseinandersetzen.

Das humanitäre Völkerrecht ist ein lebendiger Rechtsbestand, der täglich eingehalten wird. Ein nicht eingetretener Schaden ist schwer zu beziffern.

Es besteht kein Zweifel daran, dass in den derzeit mehr als hundert weltweit ausgetragenen bewaffneten Konflikten die Umsetzung des humanitären Völkerrechts durch die Konfliktparteien das Leben von Zivilpersonen und zivile Güter verschont, Folter und das Verschwinden von Personen verhindert, Spitäler geschützt und furchtbare Waffen vom Schlachtfeld ferngehalten hat.

Die Mitarbeitenden des IKRK sind Tag für Tag Zeugen der Schutzwirkung des humanitären Völkerrechts. Wir verdanken es der Wirksamkeit des humanitären Völkerrechts, dass wir arbeiten können - wir besuchen Gefangene, repatriieren sterbliche Überreste, unterstützen Spitäler und bewegen uns frei auf beiden Seiten der Front, um Menschen in Not zu helfen und mutmassliche Verstöße zu dokumentieren.

Und doch kommt es immer wieder zu eklatanten Verstössen gegen die elementarsten Regeln. Folter ist Teil der Strategie. Zivilpersonen werden gezielt angegriffen, um Angst zu verbreiten. Spitäler werden mit brutaler Rücksichtslosigkeit zerstört. Kulturelle Stätten werden geschändet.

Unter den zahlreichen Herausforderungen, mit denen das humanitäre Völkerrecht heute konfrontiert ist, ist die Non-Compliance oder Nichteinhaltung die bedenklichste.

Wir müssen uns im Klaren darüber sein, wie angemessen zu reagieren ist. Häufig zeugt die Reaktion auf Kriegsverbrechen eher von Unsicherheit als von Entschlossenheit.

Ist das humanitäre Völkerrecht noch relevant?

Interessiert sich überhaupt noch jemand für die Genfer Abkommen?

Wohlmeinende Beobachter bezweifeln, dass das humanitäre Völkerrecht angesichts der Verstösse gegen seine elementarsten Regeln noch zeitgemäss ist.

Wird ein Gesetz nicht eingehalten, muss es nicht korrigiert, sondern durchgesetzt werden.

Es gibt viele Möglichkeiten, dies zu tun.

In erster Linie müssen die Konfliktparteien mit effektiven Ermittlungen und gegebenenfalls mit Strafverfolgung reagieren.

In einer Zeit der Bündnisse und partnerschaftlichen Einsätze müssen die unterstützenden Staaten sicherstellen, dass sie Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht weder fördern noch zu ihnen beitragen. Ihre Aufgabe ist es, ihren Einfluss geltend zu machen, um Verstösse seitens ihrer Partner zu unterbinden.

Im Hinblick auf Staaten, die Waffen an Konfliktparteien liefern, sollen die internationalen Regeln für den Waffentransfer gewährleisten, dass die Waffen nicht in die Hände von Rechtsbrechern gelangen.

Selbst unbeteiligte Staaten weitab vom Schlachtfeld verfügen über Instrumente, die sie einsetzen können.

Diplomatischer und anderer Druck von Seiten der Staaten kann dazu beitragen, eine Konfliktpartei zur Einhaltung der Regeln zu bewegen.

Wenn mutmassliche Kriegsverbrecher Landesgrenzen überschreiten, ermächtigen die Genfer Abkommen und das Weltrechtsprinzip jeden Staat, sie strafrechtlich zu verfolgen, unabhängig davon, wo die Tat begangen wurde.

Ergänzt durch internationale Gerichtshöfe und Überwachungsmechanismen - mit all ihren Stärken, Schwächen und Einschränkungen - stehen den Staaten zahlreiche Instrumente zur Verfügung, um gegen die Nichteinhaltung des humanitären Völkerrechts vorzugehen.

Die eigentlichen Architekten der Kriegsregeln sind die Staaten. Anstatt an ihrer eigenen Schöpfung zu zweifeln, sollten sie entschlossen für ihre Durchsetzung eintreten.

Das IKRK wiederum setzt sich im Rahmen des humanitären Völkerrechts für die Einhaltung der Regeln ein. Durch unseren bilateralen vertraulichen Schutzdialog mit Staaten und nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen wollen wir auf mutmassliche Verstösse aufmerksam machen und auf Abhilfe drängen.

Wir wenden uns an nichtstaatliche bewaffnete Gruppen ungeachtet ihrer Beweggründe oder ihrer Struktur, um sie auf die Grundsätze der Menschlichkeit hinzuweisen und darauf aufmerksam zu machen, dass sie Zivilpersonen verschonen, Verwundete pflegen und die Menschenwürde von Gefangenen wahren müssen.

Dank seines vertraulichen Vorgehens ist das IKRK in der Lage, Staaten dabei zu unterstützen, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die Völkerrechtsverbrechen begehen, und dafür zu sorgen, dass sich alle Konfliktparteien ihrer Pflicht zur Ermittlung und Strafverfolgung bewusst sind.

 

Meine Damen und Herren,

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Lassen Sie mich abschliessend Folgendes festhalten:

Bewaffneter Konflikt ist in Friedenszeiten für die meisten Staaten ein Thema in Geschichtsbüchern. Für uns hingegen, für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, sind bewaffnete Konflikte stets präsent.

Seit seiner Gründung befindet sich das IKRK ständig zwischen und inmitten von kriegerischen Auseinandersetzungen. Heute stehe ich auf den Schultern vieler mutiger Kollegen und Kolleginnen, wenn ich sage, dass die derzeitige Weltlage Schlimmes befürchten lässt.

Wenn sich Staaten auf mögliche Konflikte der Zukunft vorbereiten, laufen sie Gefahr, genau diese Zukunft wahrscheinlicher zu machen. Wir dürfen nicht in eine Welt abdriften, in der mehrere mächtige Staaten bewaffnete Konflikte als politisches Instrument betrachten und massenhafte Opfer in der Zivilbevölkerung als unvermeidliches Nebenprodukt des Krieges akzeptieren.

Sollte an den heute sichtbaren Verwerfungslinien Krieg ausbrechen, wären die Implikationen und humanitären Auswirkungen grauenhaft. Und es gibt nichts, was das humanitäre Völkerrecht, das IKRK oder die weltweite humanitäre Bewegung tun könnten, um das erträglich zu machen.

Allein die Staaten sind dafür verantwortlich, wie die Zukunft der Welt aussehen wird.

Als Leiterin einer humanitären Organisation werde ich politische Einbindung stets vermeiden. Aber ich werde die Staaten immer wieder beschwören, sich ihrer Verantwortung für die Erhaltung des Friedens zu stellen. Wir werden unsere Arbeit tun, um das humanitäre Völkerrecht zu fördern, die Staaten bei ihrer Verpflichtung zur Verhinderung von Verstössen zu unterstützen sowie zivile und militärische Opfer von allfälligen bewaffneten Konflikten zu schützen.

Als Vertragsparteien der Genfer Abkommen sind alle Staaten dafür verantwortlich, Kriege zu verhindern und die Leiden der Zivilbevölkerung zu lindern, sollte es dennoch zu einem Konflikt kommen.

Das muss den Staaten gelingen.

Humanitäre Organisationen und die Gesamtgesellschaft dürfen ihnen nicht unabsichtlich die Möglichkeit bieten, zu scheitern. Das gilt für mich und für Sie, für die Medien und für Verantwortliche in der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Wissenschaft.

Die Genfer Abkommen wurden für uns alle geschaffen und wir alle müssen unseren Teil beitragen. Wir dürfen uns nicht einen Augenblick lang von Apathie ergreifen lassen.

Die Vermeidung von Krieg ist ein absolutes Gebot. Doch selbst wenn Krieg ausbricht, ist und bleibt die Einhaltung des humanitären Völkerrechts die einzige Möglichkeit, ein Mindestmass an Menschlichkeit zu wahren, die schlimmsten Gräueltaten zu verhindern und letztlich den Weg zurück zu Frieden und Wohlstand zu ebnen.