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Internationaler Tag der psychischen Gesundheit: Ein Gespräch mit Milena Osorio

Als Milena Osorio Anfang 2008 ihre Tätigkeit beim IKRK aufnahm, führte die Organisation acht Programme für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung (Mental Health and Psychosocial Support, MHPSS) weltweit durch. Knapp 13 Jahre später sind es bereits 240 – eine Entwicklung, auf die Milena als Koordinatorin des MHPSS-Programms und charismatische Leiterin des 130-köpfigen Teams extrem stolz ist.

Im Rahmen des internationalen Tags der psychischen Gesundheit am 10. Oktober haben wir rund um eine virtuelle Tasse Tee mit Milena gesprochen, wie wir unseren Worten Taten folgen lassen sollen, wenn es darum geht, psychische Gesundheit in unsere operativen Einsätzen zu integrieren. Eines ist jedenfalls klar: Wer von Gesundheit spricht, darf die psychische Gesundheit nicht vergessen.

Zurück zu den Wurzeln

Die Ursprünge des MHPSS-Programms des IKRK gehen auf die Jahre 2002/03 zurück, als zum ersten Mal ein Psychologe Teil des Teams wurde und Unterstützung für Familien bereitstellte, die im Balkan-Konflikt Angehörige vermissten.

Milena ist in Kolumbien aufgewachsen und hat schon früh ihre humanitäre Ader entdeckt.

Ich hatte die Möglichkeit, klinische Psychologie zu studieren. 1997 begann ich meine Tätigkeit als Psychologin bei Ärzte ohne Grenzen und arbeitete zwölf Jahre lang in einigen der tödlichsten Konfliktzonen der Welt.

Das Mandat des IKRK, humanitären Schutz für die Betroffenen bewaffneter Konflikte und anderer Gewalt sicherzustellen, veranlasste Milena, eine Tätigkeit als MHPSS-Delegierte des Roten Kreuzes im georgischen Tiflis aufzunehmen. Dort richtete sie eines der ersten Programme zur Unterstützung von Familien vermisster Personen ein und weitete diese Arbeit rasch auf Armenien und Aserbaidschan aus.

„Während sich unsere MHPSS-Arbeit in Georgien, Armenien, Aserbaidschan und Nepal vor allem auf den Einsatz für Familien vermisster Personen konzentrierte, stand in der Demokratischen Republik Kongo insbesondere die Unterstützung für Opfer sexueller Gewalt im Zentrum. Überall jedoch zeugten unsere Aktivitäten von der Bedeutung des MHPSS-Programms bei unseren Einsätzen und ebneten so den Weg für mehr Akzeptanz."

Seit 2013 arbeitet Milena am Sitz des IKRK in Genf, wo sie die immer grösser werdenden MHPSS-Teams im Feld schult und anleitet; seit 2016 ist sie die Koordinatorin dieses Programms.

Mikrokosmos der Gesellschaft

In den letzten zehn Jahren ist das Thema mentale Gesundheit aus seinem stigmatisierenden Nischendasein herausgetreten, um mittlerweile ganz oben auf der Agenda der Diskussionen zu stehen. Diese Veränderung zeigt sich auch beim IKRK. „MHPSS fristet nicht länger ein Einzeldasein, sondern gilt vielmehr als ein Element, das unsere Arbeit im Feld stärkt. Es ist in der Tat so, dass wir auf Grundlage wissenschaftlicher Analysen sagen können, dass die Bereitstellung von psychologischer und psychosozialer Unterstützung Leben retten kann."

Milena berichtet von dem ergebnisorientierten Management-Ansatz ihrer Abteilung, in dessen Rahmen der Fokus klar auf Ergebnisse gelegt wird.

Milena mit ihren Kolleginnen und Kollegen nach der Annahme einer Resolution zu psychologischer und psychosozialer Unterstützung bei der 33. Internationalen Konferenz der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung.

Dieser spannende und denkwürdige Weg war aber nicht immer ohne Herausforderungen. Am schwierigsten war es, in einem den Menschen vertrauten kulturellen Umfeld in Kontakt mit ihnen zu kommen. „Das Letzte, was wir wollen, ist als Fachleute westlicher Medizin angesehen zu werden, die den Menschen eine fremde Perspektive verordnen wollen. Wir können technisches Wissen vermitteln. Alles, was darüber hinausgeht, ist an die lokale Kultur angepasst und berücksichtigt die lokalen Bedürfnisse.

Im Rahmen unserer Arbeit in der Demokratischen Republik Kongo haben wir bei unseren ersten Beurteilungen festgestellt, dass sich die Überlebenden sexueller Gewalt oftmals an religiöse Führer wenden mit der Bitte um spirituelle Reinigung, die sie von dem ,Fluch' befreit, der sie ihrer Ansicht nach befallen hat. In dieser Situation haben wir die jeweiligen religiösen Führer in unser Netzwerk eingebunden, um nicht nur Botschaften zur Entstigmatisierung sexueller Gewalt zu vermitteln, sondern sie zu ermutigen, die Betroffenen an unser MHPSS-Programm zu verweisen."

Die Flexibilität des Teams, sich an kulturelle Umstände anzupassen und diese zu respektieren, hat zur Schaffung von wertvollem Vertrauen bei den Menschen geführt und die Integration des Programms in das lokale Gefüge ermöglicht.

Es braucht ein ganzes Dorf

Während der Fokus des MHPSS-Programms immer auf den Menschen liegt, denen wir helfen wollen, ändern sich je nach vorhandener medizinischer Infrastruktur die Berührungspunkte der Unterstützung von einer Situation zur anderen.

Kompetenzaufbau ist das Kernelement unserer Arbeitsweise. Wir ersetzen kein Personal vor Ort, sondern wollen die verschiedenen Mitglieder und Gruppen der Dorfgemeinschaften wie Gemeindeleiter, traditioneller Heiler, Lehrkräfte, Gesundheitspersonal und andere Ersthelfer schulen.

Bei der Arbeit mit Familien vermisster Personen hat sich gezeigt, dass die Familien selbst das stärkste Unterstützungsnetzwerk aufbauen. „Neben dem unermesslichen Leid, nicht zu wissen, was mit ihren Angehörigen passiert ist, und dem ständigen Auf und Ab zwischen Hoffnung und Verzweiflung stehen diese Familien auch vor zahlreichen rechtlichen, finanziellen und administrativen Herausforderungen, wenn es darum geht, die notwendige Hilfe zu bekommen.

Wir versuchen, eine Umgebung zu schaffen, in der sie sich austauschen und zusammenarbeiten können. Durch diesen Austausch praktischer Erfahrungen erhalten sie oftmals die am besten umzusetzenden Lösungen. Es ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie etwas so komplexes mit etwas so einfachem gelöst werden kann."

Überwindung der grössten Widrigkeiten

Für Milena ist einer der eindrücklichsten Teile ihrer Arbeit das Gespräch über die Widerstandsfähigkeit der Menschen, mit allen Widrigkeiten umzugehen. „Wir alle haben die Fähigkeit, Herausforderungen und Unwägbarkeiten, die uns das Leben bereithält, zu meistern. Genau diese Fähigkeit und Widerstandsfähigkeit beeindrucken mich immer wieder. Es ist beeindruckend, wie viel die Menschen ertragen können und wie gestärkt sie aus einer Situation hervorgehen."

Inmitten des aktuellen Konflikts in Darfur konnte Milena diese magischen Qualitäten bei allen Menschen, mit denen sie gearbeitet hat, erkennen. „Aufgrund der ständigen Vertreibungen haben die Menschen um ihr nacktes Überleben gekämpft. Jeden Morgen sind Mütter und Väter aufgestanden mit dem einzigen Ziel vor Augen, Wasser zu holen und Holz zu sammeln. Und am Ende eines langen, schweren Tages mussten sie in zerstörte Häuser zurückkehren, die sie ihr Zuhause nannten. Es gab keine wirkliche Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Aber sie lächelten immer weiter, während sie Wasser für ihre Kinder holten und sich am Abend rund um ein kleines Feuer versammelten, für das sie den ganzen Tag schwer gearbeitet hatten. Und sie boten uns immer etwas von ihren Speisen an, ganz egal, wie wenig sie selbst zur Verfügung hatten."

Trotz allem hatten sie ihre Kraft nicht verloren, alle Widrigkeiten zu überwinden.

Bei einem extremen Trauma kann es passieren, dass die Menschen die Fähigkeit verlieren, diese verborgene Kraft zu aktivieren. Wenn man ihnen dabei hilft, diese Kraft wiederzufinden, können wunderbare Dinge passieren und Geschichten von Stärke und Widerstandsfähigkeit erzählen.

Hilfe zur Selbsthilfe

Die COVID-19-Pandemie hat erneut gezeigt, wie wichtig die Bereitstellung von Unterstützung für medizinisches Personal und Fachkräfte im Bereich psychische Gesundheit ist, um mit dem extremen Stress ihrer Arbeit umzugehen. Aufgrund ihrer emotional erschöpfenden Tätigkeit werden die Mitglieder des MHPSS-Teams ebenfalls ermuntert, sich um ihr eigenes Wohl zu sorgen und sich zu bemühen, gesund zu bleiben.

Unsere wichtigste Regel ist es, niemals zu vergessen, dass man optimale Unterstützung nur dann leisten kann, wenn man sich selbst wohlfühlt.

Milena betreibt leidenschaftlich gern Yoga und stellt sicher, dass sie soweit wie möglich in Kontakt mit der Arbeit im Feld bleibt. „Das ist einer der Mechanismen, mit denen ich die Dinge am besten verarbeite."

Dennoch ist die Arbeit nicht einfach für das Team, vor allem aufgrund der begrenzten Ressourcen und der enormen Bedürfnisse. In Kontakt zu bleiben und über ein gut funktionierendes Schulungssystem zu verfügen, hat ihnen bisher geholfen. „Es wird interessant sein zu sehen, wie wir dieses Unterstützungsnetzwerk weiter stärken können."

Überwindung der digitalen Kluft

Während der Pandemie wurden in Gaza eine Hotline und andere Mechanismen eingerichtet. Für Milena ist es jedoch kein Konzept für die Zukunft des auf der Nähe zu den Menschen basierenden MHPSS-Programms, menschliche Kontakte durch das Internet zu ersetzen. „Trotzdem werden wir uns die Vorteile des Internets zunutze machen, zum Beispiel durch einen Zugang zu Menschen, die wir ansonsten physisch nicht erreichen können oder für die ein gewisser Grad an Anonymität notwendig ist."

1 von 5 Personen
76 %-85 % der Menschen
Auf 100 000 Menschen
500 000 Menschen

Kernelemente

  • Berücksichtigung von Unterstützung im Bereich psychische Gesundheit in der ersten Hilfswelle bei humanitären Notfällen
  • Staatliche Unterstützung der Gesundheitssysteme sowie durch humanitäre Organisationen zur unmittelbaren Reaktion auf psychische und psychosoziale Bedürfnisse
  • An das kulturelle Umfeld angepasstes Angebot an Unterstützung im Bereich psychische Gesundheit
  • Bekämpfung von Stigmatisierung, Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen
  • Investitionen in qualifizierte Arbeitskräfte

The silent tsunami of mental health needs in conflict zones

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