Medienmitteilung

IKRK-Präsidentin Mirjana Spoljaric: Ein Menschenleben ist ein Menschenleben

Rede von Mirjana Spoljaric Präsidentin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz Medien-Briefing – 75. Jahrestag der Genfer Abkommen, 12. August 2024, Genf
World Humanitarian Day: ICRC President on attacks against aid workers

In einer Rede bei einer Pressekonferenz zum 75. Jahrestag der Genfer Konventionen ruft IKRK-Präsidentin Mirjana Spoljaric die Welt dazu auf, sich erneut zu einem Rahmen für bewaffnete Konflikte zu bekennen, der dem Grundsatz folgt, Leben zu schützen, statt Tod zu rechtfertigen.

Die Genfer Abkommen bilden die Grundlage des humanitären Völkerrechts und sind in vielerlei Hinsicht sehr erfolgreich. 

Dies sind die einleitenden Worte, die Sie 75 Jahre nach der Annahme der Abkommen am 12. August 1949 von mir erwarten würden.

Für diesen Jahrestag möchte ich jedoch eine andere Überschrift vorschlagen. 

Humanitäres Völkerrecht unter Druck. Missachtet. Untergraben, um Gewalt zu rechtfertigen. 

Mehr denn je muss sich die Welt erneut diesem robusten Schutzrahmen für bewaffnete Konflikte verpflichten – ein Rahmen, der das Leben schützt und nicht den Tod rechtfertigt. 

AKTUELLER STAND DES HVR

Die Genfer Abkommen sind nicht nur einzigartig und universell, sondern auch beeindruckend beständig. 

  • Sie verbieten Folter und sexuelle Gewalt.
  • Sie fordern den humanen Umgang mit Inhaftierten.
  • Sie verlangen, dass Vermisste gesucht werden.
  • Und vor allem spiegeln sie einen globalen Konsens wider, dass alle Kriege Grenzen haben. 

Alle Staaten haben sich auf diese wesentlichen Grundregeln geeinigt. Das vierte Genfer Abkommen, mit dem Zivilpersonen geschützt werden, was nach dem Zweiten Weltkrieg dringend nötig war, wurde damals als Wunder beschrieben.

Trotz ihres universellen Rückhalts bleibt die Nichteinhaltung ein ernsthaftes Problem. Selbst wenn Parteien behaupten, das HVR einzuhalten, schmälern allzu entgegenkommende Auslegungen seine Wirksamkeit.

Deshalb rufe ich heute als erstes alle Staaten dazu auf, die Einhaltung der Genfer Abkommen zu einer politischen Priorität zu machen. Überall.

Vor 25 Jahren sprach der ehemalige IKRK-Präsident Cornelio Sommaruga von 20 aktiven Konflikten. Heute verzeichnet meine Organisation mehr als 120 Konflikte.

Während Regierungen und Medien insbesondere die Zerstörung in der Ukraine und in Gaza im Blick haben, ist der Tribut anderer Konflikte ähnlich schockierend. Die Gewalt in Äthiopien hat Hunderttausende Menschenleben gefordert. Im Sudan haben die Kampfhandlungen zur Vertreibung von acht Millionen Menschen geführt. In der Demokratische Republik Kongo sind es sechs Millionen. Lang andauernde Konflikte in Mali, der Zentralafrikanischen Republik, Kolumbien, Mosambik, Myanmar, Syrien und im Jemen fordern einen enormen menschlichen Preis.

EROSION VON SCHUTZMASSNAHMEN

Während Jahrzehnten haben zweckdienliche Auslegungen des HVR seine schützende Kraft untergraben. Einige Staaten und bewaffnete Gruppierungen haben versucht, die Grenzen des Zulässigen immer weiter auszudehnen:

Weltweit wird in Konfliktgebieten die Unantastbarkeit von Spitälern missachtet. Ambulanzen werden angegriffen. Der zivile Charakter von Schulen wird missachtet, da sie angeblich von Gegnern genutzt werden. Die Lieferung humanitärer Hilfe wird behindert, da Bedenken betreffend den Missbrauch von Hilfsgütern bestehen. Eine entsetzlich hohe Anzahl an humanitären Helferinnen und Helfern – einschliesslich Kolleginnen und Kollegen des IKRK und der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung – wird getötet. 

Doch wenn Sie mich fragen, wo ich heute die grösste Herausforderung sehe, antworte ich Ihnen Folgendes:

Ein Menschenleben ist ein Menschenleben. Was passiert, wenn wir Menschlichkeit auf eine Waage legen? Soll mein Leben mehr Wert sein als Ihres?

Die Entmenschlichung von feindlichen Kämpfern und Zivilpersonen ist ein Weg ins Verderben. Aus der Geschichte wissen wir, dass solche Fehler uns verfolgen und den Fortschritt für Jahrzehnte und Jahrhunderte hemmen. 

Wenn Konfliktparteien erlaubt wird, Menschenleben aufgrund von Staatsangehörigkeit, Rasse, Religion oder politischen Überzeugungen abzuwerten, stürzt das Fundament des HVR – unsere gemeinsame Menschlichkeit – in sich zusammen.

Das HVR verlangt, dass alle Zivilpersonen und andere von bewaffneten Konflikten betroffene Menschen gleich geschützt werden. 

Natürlich besteht die Gefahr, dass der Einsatz neuer Technologien diese Tendenzen weiter zuspitzen. Wenn Algorithmen auf nachlässige Zielregeln trainiert werden, wird die Zahl der zivilen Opfer steigen. Ohne neue rechtliche Grenzen werden autonome Waffen mit nur wenig Einschränkungen eingesetzt und treffen ohne eine menschliche Aufsicht Entscheidungen über Leben und Tod.

APPELL: DAS HVR UMSETZEN UND STÄRKEN

Es stimmt: Ich klinge pessimistisch, aber ich gebe die Hoffnung auch nie auf. 

Das HVR bleibt ein besonders mächtiges Instrument, um den menschlichen Preis bewaffneter Konflikte zu mindern. Kein anderes universelles Regelwerk verpflichtet alle Parteien zu Zurückhaltung. 

Die Genfer Abkommen retten Leben. Sie gelten heute genauso wie vor 75 Jahren. Doch für deren Umsetzung braucht es politischen Willen. Deshalb schlage ich einen Vier-Punkte-Plan zur Milderung des Leids vor: 

  • 1. Parteien bewaffneter Konflikte müssen sich erneut dem Wortlaut und dem rechtlichen Zweck der Genfer Abkommen verpflichten.
  • 2. Ich fordere alle Staaten auf, die Verträge des humanitären Völkerrechts zu ratifizieren und zu bewahren, einschliesslich der Zusatzprotokolle zu den Genfer Abkommen. 
  • 3. In von bewaffneten Konflikten betroffenen Gebieten müssen humanitäre Fortschritte erfolgen. 
  • 4. Staaten müssen bestätigen, dass die Nutzung neuer Technologien der Kriegsführung – KI-, Cyber- und Informations-Operationen – dem humanitären Völkerrecht streng verpflichtet ist. Genauer gesagt müssen die Staaten dringend ein Regelwerk erarbeiten, um autonomen Waffensystemen Grenzen zu setzen.

Bewusste Verstösse geschehen viel zu häufig und es wird zu wenig unternommen, um ihre Wiederholung zu verhindern und Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen. Die Staaten müssen mehr unternehmen, um ihr eigenes Personal zu schulen und zu disziplinieren, andere zur Einhaltung der Regeln zu bewegen, ihr Justizwesen zu ermächtigen, Kriegsverbrechen zu verfolgen und zu bestrafen und mit internationalen Institutionen zusammenzuarbeiten, um Straflosigkeit zu verhindern. 

Bewaffnete Gruppierungen müssen ähnliche Massnahmen ergreifen. Prävention, Schulung und die Verankerung des HVR in den rechtlichen, gesellschaftlichen, religiösen und ethischen nationalen Strukturen haben sich als wirkungsvoll erwiesen – sie müssen jedoch weiter verbreitet werden.

Wenn die Schutzanforderungen des HVR unter dem Druck der Parteien weiter sinken und wenn diese sich damit begnügen, seine Grenzen auszuloten, wird das HVR auf den Kopf gestellt: das humanitäre Völkerrecht wird zu einer Rechtfertigung für Gewalt, statt ein Schutzschild der Menschlichkeit zu sein. 

Sollte sich dieser Trend fortsetzen, wird die Legitimität des HVR in den Augen von Regierungen, nicht staatlichen bewaffneten Gruppierungen und der Menschen, die es schützen soll, nicht überleben. 

DEN TREND UMKEHREN

Sehr geehrte Damen und Herren 

Das Blatt muss gewendet werden. Kein Land ist vor Angriffen gefeit und kein Soldat oder keine Zivilperson wird je immun sein gegen Gewalt, die von gegnerischen Kräften ausgeübt wird. 

Die Staaten müssen die aktuelle Abwärtsspirale unbedingt aufhalten. Das Risiko von Nebenwirkungen und Eskalation ist in der heutigen stark globalisierten Welt besonders gross. Der Nahe Osten steht vor einem Abgrund und das Elend, das die Menschen in Palästina und Israel ertragen müssen, könnte sich weiter ausbreiten. Im internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine muss verhandelt werden, um das Risiko sich ausbreitender und immer komplexerer Auswirkungen zu verhindern.

Unablässige Spannungen zwischen mächtigen Staaten haben Vorbereitungen für grossangelegte Militäroperationen in Gang gesetzt. Das Narrativ internationaler Beziehungen bewegt sich von Multilateralismus und Kooperationsvereinbarungen hin zu Verteidigungsausgaben und Konfliktbereitschaft. 

Ihr seid entweder mit oder gegen uns. Ein solcher Ansatz bei Auslandbeziehungen lässt den verheerenden menschlichen Preis und die wirtschaftlichen Rückschritte ausser Acht, die ein Konflikt zwischen den mächtigsten Armeen verursachen kann.

Vor diesem Hintergrund stelle ich mir eine grundlegende, aber entscheidende Frage: „Wo sind die Friedensstifter? Wo sind die Männer und Frauen, die Verhandlungen führen, die das Töten stoppen und Kriege beenden? 

Weshalb rufe ich die politische Führung weltweit dazu auf, praktischen Schritten zur Umsetzung des HVR Priorität einzuräumen?

Wo Konfliktparteien sich beharrlich weigern zu verhandeln, ist der Druck auf neutrale und unabhängige humanitäre Akteure wie das IKRK grenzenlos. Auf der anderen Seite ermöglicht die Einhaltung des HVR, beispielsweise durch die Gewährung von humanitärem Zugang, die Erleichterung von Evakuierungen oder die Freilassung von Inhaftierten, wichtige erste Schritte hin zu einer Deeskalation und zu Waffenstillstandsabkommen. 

In einer gespaltenen Welt kann das HVR einen Weg zum Frieden darstellen. Die Genfer Abkommen verkörpern universelle Werte. Sie stellen einen gemeinsamen Nenner der Menschlichkeit dar. Sie sind entscheidend, um die schlimmsten Folgen von Kriegen zu verhindern und sicherzustellen, dass alle, auch Feinde, als menschliche Wesen behandelt werden. Alles andere wäre ein Verrat an den unter dem Eindruck der Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg eingegangenen Verpflichtungen.